Wetten Am Tor
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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ivanji, Ildi: Wetten am Tor: Erzählung / Ildi Ivanji. Aus dem Serbokroat. von Milo Dor. - Wien: Picus Verl., 2000 ISBN 3-85452-442-0
Copyright © 2000 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien 2. Auflage 2001 Alle Rechte vorbehalten Grafische Gestaltung: Dorothea Locker, Wien
Umschlag: Rainer Wölzl Druck und Verarbeitung: Theiss, Wolfsberg ISBN 3-85452-442-0

Ildi Ivanji
Wetten am Tor
Erzählung
Aus dem Serbokroatischen von Milo Dor
Picus Verlag Wien

An Sascha Goldman, 1977
Es fängt an. Das heißt, daß ich dreiunddreißig Jahre zurückgehe und daß mir dabei so komisch zumute ist, daß Dir auch komisch zumute wird und allen anderen auch; all das, was angeblich so traurig war, daß man diese Trauer dreiunddreißig Jahre lang stückweise verkaufen konnte, und jetzt, da das nicht mehr rentabel und aktuell ist, laß sie uns in neuer Verpackung feilbieten. Dabei hätte ich überhaupt keine Lust, mich an all das zu erinnern, liebte ich Dich nicht auf eine blöde Art, die ich nicht imstande bin zu definieren. Und wäre ich dazu imstande, könnte ich das nicht tun, was Du von mir verlangst. Denn ich verstehe nicht, warum Du plötzlich willst, daß ich Dir »wenigstens Briefe schreibe«. Und was verstehst Du überhaupt unter diesem »wenigstens«. Briefe schreiben ist eine Verpflichtung oder ein Bedürfnis. Aber bei mir besteht weder das eine noch das andere. Zum Glück aber ist jetzt Winter. Winter war auch in diesem Jahr 1944. Ich schreibe in einer Sprache, die ich vor dreiunddreißig Jahren nicht gesprochen habe.
*
Weder Kälte noch Hunger sind das, was Du glaubst. Was Du für Kälte und Hunger hältst, ist reiner Dilettantismus. Solange Du nicht das Bedürfnis hast, alle unangenehmen Dinge in Humor zu verwandeln, den schwarzen, weißen, roten, lila oder bunten Humor, bleibt alles Dilettantismus. Wenn die Dinge professionell werden, mußt Du sie bewältigen.
Zum Beispiel die Kälte. Zum Zudecken hast Du einen Mantel. Er ist einen Meter vierzig breit und neunzig Zentimeter lang. Du bist eins fünfzig groß, was sollst Du tun? Zuerst stellst Du mit Deinen ganzen elf und noch nicht ganz zwölf Jahren fest, daß die Länge kürzer ist als die Breite, wonach die Breite zur Länge und die Länge zur Breite wird. Du deckst Dich mit der Breite zu, damit Du, zusammengekauert, auch Deinen Kopf unterbringen kannst. Die Länge nützt Du zur Verlängerung eines Paars von Pritschen, an das Du Deinen Rücken lehnst. Du befindest Dich auf der oberen Pritsche in der Nähe der hölzernen Decke mit den Wanzen, ganz allein, auf einem Platz, der Dir ungerechterweise zugeteilt wurde. Kinder haben kein Recht auf einen eigenen Liegeplatz. Ich hatte kein Kind zur Hand, mit dem ich meinen Liegeplatz hätte teilen können. Und da ich nicht besonders liebenswürdig war, rempelte ich die mir zugeteilte »Großmutter« bis zur Erschöpfung.
So setzte sich der Rat der Weisen zusammen und teilte mir ein eigenes Bett, genannt Pritsche, zu. Und zwar, wie ich schon sagte, die obere Pritsche, die quer über die beiden längsseitigen angebracht war. Diese Pritsche war mein Beobachtungsposten, mein Kinderzimmer, mein Bunker und mein Arsenal. Manchmal saß ich auf meinen Füßen, die ich mit der Breite umwickelt hatte, die es im weiteren Verlauf meiner Erzählung verdient, in großen Lettern geschrieben und als Persönlichkeit behandelt zu werden. Die Breite war dunkelblau, weich, hatte einen breiten Gürtel und war für einen ganzen Laib Brot gekauft worden.
In unserer Baracke wohnten beinahe dreihundert Menschen, die auf hundertfünfzig aufgestockte Pritschen verteilt waren, vielleicht auch mehr. Ehepaare und Kinder je zu zweit auf einer Liege. Die übrigen nach Belieben. Einige beliebten, zu zweit zu liegen, schon wegen der erwähnten professionellen Kälte und der ein bißchen übriggebliebenen amateurhaften Romantik. Andere nicht. Die Großmutter, der ich zu Anfang zugeteilt gewesen war, lag jetzt unter mir. Sie hatte die Angewohnheit, nachts plötzlich zu schreien:
»Das Bett wackelt! Das Bett wackelt! Leute, schaut nach, woher das kommt.«
Angeklagt waren ich und Bela Lux (volle zwölf und nicht ganz volle dreizehn Jahre, aus Zrenja-nin, einst Groß-Betschkerek), der auf einer der oberen, querliegenden Pritschen mit seiner Mutter Hilde Lux wohnte. Irgendwie standen die beiden mit der Vorkriegs seife »Lux« in Verbindung. Mir war nicht ganz klar, was unter diesem »Es wackelt« zu verstehen war, sobald aber die Großmutter Gisi zu kreischen anhob, begann,ich mit aller Kraft zu wackeln, und Bela machte dabei bereitwillig mit. Dann entstand eine allgemeine Aufregung.
Mutter Hilde schwor laut, hauptsächlich auf jiddisch, wobei sie ständig aus dem Talmud zitierte, daß ihr Sohn unschuldig sei, der, wie sie behauptete, seine Bar-Mizwa hinter sich habe.
Manche wollten schlafen. Olga sagte gewöhnlich: »Aber Mama«. Zum Glück war ihre Liegestätte ziemlich weit entfernt, und Bela und ich »wak-kelten«, uns an der Hand haltend. Dann pischten die Mutigeren in die Konservendosen, und von der Größe der Dosen hing es ab, wie laut das Geräusch dabei war. Die kleineren Kinder weinten, die Ratten wurden unruhig, die Breite wurde immer enger, und Großmutter Gisi schlief ihren vierundsiebzig Jahren entsprechend plötzlich ein, eingelullt durch Belas und mein Gewackel. Dann entstand wieder Ruhe. Doch die Kälte wuchs und wurde immer größer, und man mußte sich sehr bemühen, irgendwie zu überleben, indem man die Luft unter die Breite ausatmete. Bis zum Morgen.
Dann kamen die langweiligen Appelle. Das ist heute schon banal. Sie eignen sich für Massenauftritte in Kriegsfilmen aller Ideologien. Man jagt dich in eine noch größere Kälte hinaus, und dort stehst du herum, die Breite ist jetzt an dir, mit dem Gürtel gebunden, an den Füßen hast du Holzpantinen, darunter aus Sackleinen geschickt gemachte Bandagen und ein bißchen Stroh, das man aus einem fremden Strohsack gestohlen hat. Dieses Schuhwerk hatte ich mir noch in Österreich mit vollendeten zehn und unvollendeten elf Jahren erbettelt, als ich in Alt-Prerau als Fabriksarbeiterin beschäftigt war, wo wir Konserven für die Wehrmacht zu produzieren hatten. Die Holzschuhe bekam ich mit einer Ohrfeige als Draufgabe, aber das war es wert. Und jetzt das Bühnenbild:
Bergen-Belsen, und Du fragst Dich, wieso ich am Leben geblieben bin. Frag doch Joel Brandt. Sein Partner war Alex Weissberg. Die beiden haben ein Buch darüber geschrieben. Es heißt: »Auf Geheiß der zum Tode Verurteilten«, Originaltitel: »Bi shli-hut nidoniim le mavet«. Als ich dieses Buch 1966 las, erfuhr ich, daß der mir liebe Joel in Koproduktion mit irgendeiner jüdischen Weltorganisation von den Deutschen für nie gelieferte Lastwagen Juden gekauft hatte. Vier Juden für einen Lastwagen. Und so, während sie dort verhandelten, wovon wir im Lager etwas hörten und noch mehr erahnten, ohne genaue Informationen darüber zu haben, wer hinter diesem interessanten Busineß steckte, wurden wir gesondert behandelt und auf Eis gelegt, formell und real, in einer Abteilung namens BB (nicht Brigitte Bárdot und auch nicht die Bahnstrecke Belgrad-Bar) und warteten auf das Resultat dieses Handels. Das hier ist eigentlich die Geschichte dieses Wartens.
Joel Brandt habe ich nie kennengelernt. Schade. Später haben sie ihn wegen dieses Busineß maltrauert, bis er starb. Ich hätte ihm etwas Schönes gesagt, etwas wirklich Schönes. Hat überhaupt jemand mit ihm schön gesprochen? Stell Dir vor, man hat ihn vor Gericht gestellt. Andere nicht. Glaubst Du, das geht mich was an? Eigentlich nicht. Aber Hunde hatte ich schon viel früher gern.
*
Ich saß auf einem kleinen, weißen Stuhl im Kinderzimmer in Zrenjanin, dem seligen Betschkerek, und wartete auf das versprochene Geschenk, einen lebenden Hund. Der Stuhl war eigentlich ein kleiner Fauteuil mit Lehne, und. ich trug ein Matrosenkleidchen, dunkelblau (die Farbe der Breite) mit weißem Kragen, auf dem sich drei (die Zahl meiner Jahre) blaue Streifen befanden. Der Hund kam an, ein Foxterrier. Den Namen gab ich ihm gleich nach der Feststellung des Geschlechts, nach einem Mädchen, das ich gern hatte: Susi. Das betreffende Mädchen hieß eigentlich Zsuzsi, wobei man das »zs« wie beim französischen Wort »jou« aussprach. Da aber meine Muttersprache, die ich als erstes Geschenk meiner klugen Eltern empfangen hatte, Deutsch war, konnte ich den Namen meiner Freundin nicht richtig aussprechen. Das zweite wertvolle Geschenk war, daß sie mich 1941 nicht wie viele andere Eltern aus allzu großer Liebe und Sorge mitnahmen, ins Lager auf dem Belgrader Messegelände oder in den Kanonenschuppen oder so was Ähnliches, wo die Deutschen gerade Zyklon B ausprobierten. So ließen sie meinen etwas älteren Bruder Ivan und mich unser Glück selbst versuchen und aus Betschkerek, damals Petrograd (diese Stadt änderte oft ihren Namen), in Richtung des damaligen Groß-Ungarn fliehen, ich sieben und er ganze zwölf Jahre.
Das Zyklon B wurde nach dem Krieg nach Jugoslawien importiert. Der Importeur war die Firma Hempro Belgrad, bis ein Kollege vom Fernsehen, Mischa Ljuzowitsch, Tonmeister aus Titograd, der sich zwischen 1963 und 1964 als Kammerjäger etwas dazu verdiente, anfing, mich mit leeren Konservenbüchsen von Zyklon B aufzuziehen, deren Aufmachung und Verpackung unverändert geblieben war. Ich nehme an, daß sie noch aus Kriegszeiten übriggeblieben waren. Er gab mir aus Achtung vor meinem (in jeder Hinsicht) absoluten Gehör zwei leere Konservenbüchsen.
Ich wandte mich an den damaligen Direktor der Firma Hempro, István László, mit der bestimmten freundschaftlichen Warnung und der Bemerkung, die Sache sei zumindest geschmacklos. So fand diese Art der Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik unter der Bedingung ein Ende, daß ich die Büchsen auslieferte, damit kein Corpus delicatesse in meinen Händen bleibe, was ich idiotischerweise auch tat. Ich nehme jedoch an, daß weitere leere oder auch volle Büchsen von anderen Menschen aufbewahrt werden. Nie werde ich vergessen, wie Ivan Ivanji (Du weißt schon) grün wurde, als ich ihm die Konservenbüchsen mit dem schönen gelben Etikett und der sinnigen Aufschrift in roten Lettern, die etwas wie »erprobt und für gut befunden« besagte, vor die Nase setzte. Zum Teil auch ihm zuliebe habe ich diese Büchsen zurückgegeben, da er gerade dabei war aufzusteigen, ich wollte seiner Karriere nicht schaden.
So fing es mit den Hunden an.
So fing es nicht an.
Angefangen hat es mit Waldi, dem Hund unseres Nachbarn, der kurzhaarig war und nur ein Auge hatte. Er kam mich jeden Vormittag besuchen. Er gehörte dem Apotheker Wagi, dessen Apotheke sich unten in unserem Haus befand. Waldi kam und ging wieder. Aber ich wollte meinen eigenen Hund haben, obwohl man mit Waldi ernsthaft sprechen konnte, und das war wesentlich. Alle anderen waren nicht in meiner Nähe oder langweilig, auch Ivan und sein Kanarienvogel Mandi. So kam Susi, deren Hundeleben nur kurz war, und dann Zucki, ein kleiner Seidenpinscher. Mit ihm verbrachte ich zwei glückliche Jahre in völliger Eintracht. Dann kam, 1941, Zyklon B, und vorher wurde Zucki dem Friseurlehrling, der wegen seines schönen Aussehens auf den Namen Affe hörte, zur Aufbewahrung übergeben.
Zucki habe ich nie wiedergesehen, und mein Kontakt zu lebenden Wesen, ich meine der aufrichtige und innige, hörte auf, bis ich den gelben Köter Momak (Bursche) traf. Aber diese Begegnung gehört schon zu den Nachkriegstagen und ist für diese Geschichte nicht wesentlich, sie erklärt nur einiges, ich meine, warum ich mich in diesem BB-Lager nicht so schlecht fühlte. Dort gab es keine Hunde, und ich war demzufolge so sehr introvertiert, daß ich am Leben im Lager nicht teilnahm, sondern es nur beobachtete. Es wurde gesagt, ich sei ein böses, gefühlloses und egoistisches Kind, das immer nach einer Unterhaltung suche, ohne Rücksicht auf menschliches Leid. Sieh da! Ich habe sie doch überhaupt nicht gestört. Wer leiden wollte, sollte leiden. Sie störten eher mich, weil sie nicht gestatteten, daß ich mein schönes, erfundenes Leben lebte, selbst dann nicht, wenn es möglich gewesen wäre. Ich »drehte« nämlich meine Filme und schnitt sie zusammen, auseinander und wieder zusammen, teilte die Hauptrollen den Hunden und Bären zu, die in einer nur mir verständlichen Sprache sprachen. Alle zusammen stahlen wir Nahrung (manchmal auch tatsächlich) und waren grün. Ich weiß nicht warum, aber wir waren nun mal grün.
*
Eines Morgens nach dem Appell wurde ich Zeugin des Handels um ein Sakko. Ein gewisser Tausig, Ingenieur aus dem Memelland, und ein gewisser Groß aus der großen orthodoxen Familie Groß, handelten miteinander. Groß war der Verkäufer, denn in seiner Sippe gab es viele Männer, und es war nicht unbedingt notwendig, daß jeder von ihnen sein eigenes Sakko hatte. Man brauchte ein Sakko nur, wenn man ausging. Und warum sollten alle zwölf bis sechzehn Männer namens Groß auf einmal ausgehen. Ausgehen mußte man ja nur zum Appell, und irgendeiner von ihnen war immer »krank« oder unterwegs zur weit entfernten Latrine.
Ich ging als böses Kind auch aus, um alles zu beobachten und Neues für meine nächtlichen »Filmaufnahmen« unter der Breite zu sammeln. Ich muß Dir noch sagen, daß ich gewisse Schwierigkeiten mit dieser Latrine hatte. Ich war nämlich geschoren, angezogen und böse wie ein Bub. Und mit diesem meinem Namen Ildi wußte keiner, wer und was ich war. Olga meinte, daß es im Lager mit nicht ganz zwölf Jahren weniger gefährlich sei, ein Knabe zu sein als ein Mädchen. So gab es ständig Mißverständnisse, welche Latrine ich aufsuchen sollte, weil man mich überall davonjagte. Es handelte sich nämlich (Du kannst es nicht wissen, weil Du nicht als Soldat gedient hast) um eine lange Bank mit Löchern im Abstand von einem halben Meter, und zwar auf beiden Seiten der Bretter, die etwa anderthalb Meter breit waren. Man saß also Arsch gegen Arsch. Das alles war für mich so kompliziert, daß jeder Neu-Freudianer mit Genuß darin etwas finden würde, hätte ich mich gefügt. Aber ich habe mich nicht gefügt, sondern mich irgendwie
reingeschmuggelt, sobald es dunkel wurde, was manchmal sogar gefährlich sein konnte, weil man bei Einbruch der Dunkelheit um keinen Preis herumschleichen durfte. Das alles würde weitreichende Folgen für das spätere Kabarett haben, das entstand, als die Budapester kamen und das der Grund dafür ist, daß Du und ich beschlossen haben, mich in die Zeitmaschine zu setzen. Aber scheiß drauf. Jetzt hörte ich dem Handel zu:
GROSS: Ach, mein Gott, mein Gott!
TAUSIG: Dieses Sakko ist verlaust. Was wollen Sie dafür haben?
GROSS: Mein Gott, mein Gott! Verlaust ist halt verlaust. Anderthalb Brote.
TAUSIG: Dann müssen Sie es zuerst säubern.
GROSS: Am Sabbat?
TAUSIG: Am Sabbat darf man auch nicht handeln. Wenn Sie schon handeln, dann können Sie auch das Sakko säubern.
GROSS: Aber ich muß den Meinen etwas zum Abendessen besorgen. Ich muß meine Leute ernähren.
TAUSIG: Entlausen Sie zuerst das Sakko!
GROSS: Wer es kauft, soll es entlausen.
TAUSIG wendet sich zum Gehen.
ICH ändere meine Lage.
GROSS: Herr Tausig, Sie haben kein Herz.
TAUSIG: Nicht für Läuse.
GROSS: Herr Tausig, machen Sie das nicht mit mir!
TAUSIG: Na schön. Aber mit den Läusen nur einen Laib Brot.
GROSS (geht weg): Ei, ei, ei.
ICH: Onkel Tausig, was geben Sie mir, wenn ich Ihren Mantel entlause?
TAUSIG (wütend): Eine Ohrfeige.
GROSS (kommt zurück): Ich habe es gereinigt.
TAUSIG: In Ordnung. (Nimmt das Sakko in die Hände, gibt Groß anderthalb Brote, schaut in die Nähte, die natürlich voller Läuse sind und brüllt:) Sie haben es nicht gereinigt!
GROSS: Gott, der Vater, sieh herab! Jehowa, sieh das und richte! Seine eigenen Läuse hat er hineingegeben und klagt mich' Armen jetzt an. Ei, ei, ei. Meine Kinder werden vor Hunger krepieren, weil ich nichts habe, womit ich sie ernähren kann. Wenn die ganze Familie Groß gestorben ist, kann man die Suppe auf wenige Köpfe verteilen. Ein Dieb! Haltet ihn! Hilfe!
TAUSIG stößt Groß weg, wirft das Sakko auf den Strohsack, gibt mir eine Ohrfeige, ich verkrieche mich unter die Breite und luge hervor. Tausig nimmt das Sakko, geht vor die Baracke, um die Läuse zu vertilgen.
GROSS (brummt, während er weggeht): Unsinn! Lauter feine, dicke Läuse. Sie beißen nicht einmal. Sie sind satt und garantiert nicht ansteckend!
*
Ich krieche hervor. Ich breche auf, um eine Runde zu drehen. Ich ziehe die Hose an, das Oberteil eines dicken Pyjamas, ein Unterkleid, einen Pullover und darüber die Breite. Ich haue ab, damit mich niemand sieht.
Olga und Endre arbeiteten in einer Barackenambulanz als Ärzte, und die übrigen Kinder aus meiner Baracke waren raunzig und verwöhnt. Da gab es ein kleines Peterchen, das etwas kleiner war als ich. Dieser Bub nahm immer ein Brett mit zur Latrine, um sich nicht mit nacktem Hintern dorthin zu setzen, wo andere schon gesessen waren. Seine Mami rieb danach sorgfältig das betreffende Brett ab, trocknete es mit einem Fetzen und hob es an einem sicheren Ort auf. Ich werde nie Peterchens wichtigen Gesichtsausdruck vergessen, wenn er mit dem Brett in der Hand durch die Baracke in den Hof marschierte, in Richtung Latrine. Er hat's gut, dachte ich, er hat ein eigenes Brett und weiß, wohin er geht. Ich beneidete ihn, haßte ihn und gab ihm nicht mein Buch zu lesen, das ich hinter Olgas Rücken mit Spielgewinnen Onkel Bedö, einem Architekten aus Subotica, abgekauft hatte.
Onkel Bedö befand sich aus mir damals unbekannten Gründen im benachbarten Lager (weil er als Kommunist deportiert wurde) unter irgendwelchen Holländern hinter dem Stacheldraht. Das Buch war für Kinder und hieß »Madagaskar«. Es hatte dreihundertfünfundsechzig Seiten, und ich durfte täglich auf eigene Anordnung nur zwei Seiten lesen, und wenn ich es einmal ausgelesen hatte, würde ein Ende sein, so oder so. Olga brachte übrigens Onkel Bedö, dem alten Bekannten aus Vorkriegstagen, jeden Abend ein Glas Milch und reichte es ihm durch den Draht, was nicht ganz ungefährlich war. Sie bekam, weil sie für den Hauptmann arbeitete, den ich später vorstellen werde, jeden Abend einen Liter Milch aus der Soldatenkantine. Davon gab sie ein Glas mir, eines Großmutter Gisi, eines Endre und eines Onkel Bedö. Sich selbst sah sie als ein Wesen, das irdische Lappalien nicht berührten.
Aber wenn wir schon beim Essen sind: Manchmal teilte man Marmelade aus. Das machte in unserer Baracke eine magere, hexenhafte Tante, die folgendermaßen stahl: Die Marmelade wurde aus großen Zehn-Kilo-Dosen verteilt. Jeder reichte ein Stück Brot oder einen kleinen Becher, um einen Löffel Marmelade zu bekommen. Nach jeder Ausgabe senkte sie den Löffel zu ihrem Einmachglas, das sie bescheiden hinter der großen Dose versteckte. Jedes Mal glitt vom Löffel ein bißchen Marmelade in das Glas und sammelte sich dort an, langsam, aber sicher. Da der Tisch, neben dem sie arbeitete, schräg unter meinem Beobachtungsposten stand, wurde mir eines Tages übel davon, obwohl sie das alles wegen ihrer kränklichen Tochter Kathi tat, die noch nicht vierzehn war. So flüsterte ich ihr an diesem Tag von meinem Beobachtungsposten aus zu:
»Geben Sie mir sofort Ihr Einmachglas, sonst werde ich Sie verpetzen!«
Ohne ein Wort zu sagen, reichte sie mir das Einmachglas mit fünf tausendjährigem Haß in den Augen und sagte dann, ich sei »böse«. Ich brauchte die Marmelade nicht. Marmelade, Kartoffelschalen (im Unterschied zu meinem Bruder) und Erde aß ich nicht. Die Marmelade steckte ich Bela Lux zu, der sie verschlang, und so bekamen während der Dauer dieser Operation einige Elende einen vollen Löffel Marmelade, was mich auch nichts anging. Ich genoß meine jetzt schon institutionalisierte Bösartigkeit (so wie auch heute noch) und das Ganze wurde wiederholt, so oft ich Lust dazu hatte.
Zum Mittagessen gab man uns Dörrgemüse. Das war angeblich eine Suppe aus gedörrtem Gemüse. Sie wurde mit den aus der Erde ausgebuddelten, ungewaschenen Kartoffeln angereichert und war vollkommen ungesalzen. Jeder bekam pro Tag einen Liter davon. Auch da spielte ich meine kleine Komödie. Ich holte die Kartoffeln heraus, wusch und schälte sie, wie auch das angebliche Gemüse. Die Erde und das, was man Suppe nannte, verschenkte oder verkaufte ich nicht, ich schüttete es weg. Was ich herausgefischt hatte, aß ich mit etwas Brot oder einem Würfel Zucker. Großmutter Gisi war zuckerkrank und gab mir, plötzlich zärtlich geworden, manchmal ihre Portion Zucker. Meistens jedoch tauschte sie ihren Zucker gegen Zigaretten ein.
*
Die Tage vergingen hauptsächlich in lethargischer Langeweile. Manchmal besuchte ich zwei Mädchen aus Szegedin. Nur sie wußten, daß auch ich ein Mädchen war. Ihre Mütter durften das nicht wissen, weil sie es sonst im ganzen Lager herumposaunt hätten. So wurde uns aus moralischen Gründen verboten, »allzu intim« miteinander zu verkehren. Das eine Mädchen hieß Gabi und war sehr schön. Es hatte schwarzgelockte Haare. Und das andere hieß Agi. Es war ein Jahr älter als wir und hatte schon etwas, das einem Busen ähnlich sah. Wir drei gingen von Zeit zu Zeit so um halb fünf, bevor es dunkel wurde, zum großen Tor. Da hatten wir eine besondere Unterhaltung.
Auf dem Weg, der zwischen der linken und der rechten Seite des Lagers verlief, wurden um diese Zeit auf Holzkarren »Leichen von Leichen geschoben«, wie wir es nannten. Jeder Karren wurde von vier bis sechs Häftlingen geschoben, die alle gleich gesichts- und farblos waren. Es war mir nicht klar, wieso sie alle auch gleich groß waren. Auf den Karren lagen, ordentlich aufeinander gelegt, die täglich frischen Toten. Die Häftlinge, von denen die Karren geschoben wurden, mußten sich bei dieser Arbeit sehr anstrengen, so daß sie manchmal ganz einfach umfielen und unbeweglich liegenblieben. Dann blieb die ganze Karawane stehen. Der Gefallene wurde eine Zeitlang geschüttelt, und wenn man festgestellt hatte, daß es keine Hoffnung mehr gab oder daß es sich nicht mehr lohnte, ihn aufzurichten, zogen ihn seine Mithäftlinge aus, eine der noch lebenden Leichen warf sich die Kleider über die Schulter, und die Karawane setzte ihren Weg fort. Unser Spiel bestand darin, daß wir miteinander wetteten, wer von den schiebenden Leichen das Ende des Weges erreichen würde. Am Ende des Weges stand das Gebäude mit den Verbrennungsöfen.
Ich kann mich erinnern, daß ich schon damals den Spruch »Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter« kannte.
Ich vermißte den Hund.
*
In einer Baracke zwischen der unseren und jener, in der Agi und Gabi wohnten, hatte sich auf einer Anordnung von drei Pritschen (zwei längs und einer quer gestellten) Pick-Salami angesiedelt. Ich weiß nicht, ob Du schon von Pick-Salami gehört hast, aber in den ungarischen Gefilden vermeinte man schon, den Geruch von Salami wahrzunehmen, wenn man nur den Namen Pick hörte. In unserem BB-Lager fand sich die ganze Pick-Familie ein, die aus einigen gesichtslosen Erwachsenen und einem Mädchen namens Vera bestand, das im buchstäblichen Sinne des Wortes rotzig war und uns auf die Nerven ging, weil es immer mit uns befreundet sein wollte, aber das kam nicht in Frage, da es nebst vielem anderem auch sehr laut war, während unsere Aktionen äußerst delikat und konspirativ waren.
Der alte Pick (für uns war er alt), der Vater des Mädchens, wurde bei unserem »freundlichen Empfang« in Bergen-Belsen schrecklich verprügelt. Das geschah, während man uns »badete«, wobei aus den Duschen tatsächlich Wasser, und zwar heißes Wasser herauskam und nicht Zyklon B. Der Vater Pick wurde ständig zum Verbandwechseln geschickt, doch vergeblich. Eines Tages starb er doch an seinen vielen Wunden. Aber für uns war das völlig unwichtig. Wichtig war (siehe Joel Brandt), daß es den Picks auf eine geheimnisvolle Weise gelungen war, eine enorme Menge Pick-Salami durchzuschmuggeln, und daß Vera Pick uns von Zeit zu Zeit mit sehr dünnen Scheibchen Salami bestoch, damit wir sie zum Tor der Wetten mitnahmen.
Wir nahmen sie einmal mit und dann nie mehr, weil sie einen hysterischen Anfall bekam. Wir setzten alles ein, was wir hatten, das heißt einen Würfel Zucker, Käse, der Quargel genannt wurde, in kleinen Scheiben (die Ration war eine Viertelscheibe täglich, aber wir bekamen jeden vierten Tag die ganze Scheibe), Brot oder Zigaretten, die man wiederum gegen etwas Eßbares eintauschen konnte. Vera hatte nichts außer ein bißchen Salami. Weil sie so ausgemergelt und verwöhnt war, bekam sie ihre Mahlzeiten nicht in die Hand, sondern wurde geschoppt, wobei die ganze Familie vor lauter Auf-Opferung für das Wohl der einzigen Erbin zugrunde ging. Aber das war ihre Sache. Trotz all dieser familiären Anstrengungen war Vera manchmal imstande, ein bißchen Salami zu stehlen, die für weiß Gott welche schlechten Tage aufbewahrt wurde. Diese Tage waren ihnen offenbar noch nicht schlecht genug.
So nahmen wir Vera mit, und ich hatte einen guten Tag, weil alle meine »lebenden Leichname«, auf die ich gewettet hatte, den Bestimmungsort erreichten, was für mich bedeutete, daß ich zwei Würfel Zucker, eine halbe Scheibe Quargel und von Vera ein dünnes Scheibchen Salami gewann. Doch dann schoß aus dem Krematorium etwas Rauch, was man auch riechen konnte, und Vera fing an zu jammern und zu schreien. Ich begann, sie zu schlagen, um für die Außenstehenden einen sichtbaren Grund für ihr Schreien zu liefern, damit nicht herauskam, was wir da eigentlich machten. Ich zerrte sie an den spärlichen, blaßblonden Haaren zur nächsten Baracke, in der mein entfernter Verwandter Robi Koch, das »brave Kind«, mit seiner Mutter wohnte. Ich schlug Vera den ganzen Weg entlang, und als die Erwachsenen uns einholten, merkte ich, daß wir nur mehr zu zweit waren, weil Agi und Gabi klugerweise das Weite gesucht hatten. Mama Koch trennte uns und führte mich zu Olga zum Rapport. Es wäre besser gewesen, sie hätte auf ihr »braves Kind« aufgepaßt, das später,
1956, in Budapest in große Kalamitäten geriet, aber1944 war ich die Verliererin. Am nächsten Tag aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, brachten mir Agi und Gabi, meinen Gewinn. Vera erschien nicht mehr. So endete mein Traum von der Pick-Salami, und mehr als einen Monat lang gingen wir nicht mehr zum Tor, um dort zu wetten. Wir hatten genug davon.
*
Dann erfanden sie die Schulklasse. Jemandem war eingefallen, die Kinder hätten keinen Halt und sie sähen »viele häßliche Dinge«, und es sei deshalb an der Zeit, ihre Aufmerksamkeit in andere Bahnen zu lenken. Man organisierte Unterricht auf freiwilliger Basis in einer der Baracken. Ich muß betonen, daß Olga mich sehr sauber hielt. Nach achtstündiger täglicher Arbeit in der Ambulanz und nach der Untersuchung aller falschen und echten Kranken in unserer Baracke entwickelte sie noch den Ehrgeiz, zu waschen. Ich mußte jeden Tag etwas Sauberes anziehen und war nicht verlaust wie die meisten anderen Kinder.
Vielleicht stammt daher meine Eigenart (nach meinem Horoskop soll mir das allerdings angeboren sein), keinen Wert auf physischen Kontakt mit mir nicht nahestehenden Personen zu legen. Jedenfalls mied ich jeglichen intimen Kontakt mit meinen Mitleidenden aller Altersklassen. An diesem Morgen, ich glaube, es war Anfang Dezember, versammelte man uns, einen Haufen kleiner Kretins, auf einem kleinen Platz und begann, uns die Balladen des großen ungarischen Dichters Arany János einzutrichtern. Ich weiß nicht, ob je jemand verstehen wird, wie maßlos absurd das war - Bergen-Belsen und Arany János. Aber da ich die erste Klasse der Bürgerschule bei sehr ehrwürdigen Schwestern begonnen hatte, die im Unterschied zu den anderen auch jüdische Bastarde in ihrer Schule aufnahmen, da ich also sehr ehrwürdige Schwestern als Lehrerinnen gehabt hatte, war ich auf dem Gebiet der Poesie, insbesondere der ungarischen Poesie, sehr gebildet.
So begann der ambitiöse (und schmutzige) Vámosi, der sich selbst die Rolle des Lehrers zugeteilt hatte, um sich wichtig zu machen, mit der allgemeinen Theorie über die Bedeutung der Poesie und der ästhetischen Kriterien bei der Auswahl einzelner Wörter, um dann ohne Übergang »Szilagy Örz-sébet levelét megirta …« (Szilágy Örzsébet schrieb ihren Brief …) zu rezitieren, worauf ich ohne Übergang mit »Edvard király, angol király, léptet fakó lován …!« (König Edward, der englische König, reitet auf seinem fahlen Roß) fortfuhr.
Der Mann war konsterniert. Er beherrschte sich jedoch und verpaßte mir keine Ohrfeige, fragte mich nur, wieso ich plötzlich auf Edward käme. Ich erklärte ihm, die Örzsébet (Elisabeth) habe ihrem Sohn einen Brief voller Liebestränen gesehrieben (nur um ihm zu beweisen, daß ich wußte, wie dieses Gedicht weiterging - mit Liebestränen trennte sie sich von ihm, nämlich dem Brief). Ich wollte Vámosi also beweisen, daß ich auch das Gedicht, aus dem er zitiert hatte, kannte und daß dieser Sohn niemand anderer war als König Matthias Corvinus (zur Zeit des Schreibens des Briefes voller Tränen noch König Mátyás Hunyadi, Sohn des Janko oder János Hunyadi Sibinjanin aus unserer ungarischen Vorgeschichte). Aber selbst als Corvinus blieb er ziemlich unwichtig für die Weltgeschichte, sofern man nicht einräumt, daß die Türken angeblich wegen seines Widerstands nicht bis Wien vorgedrungen sind, was uns nicht besonders angehen sollte, indessen Edward, der König, auf seinem , bleichen Roß durch Wales streifend, in Probleme hineinritt, die noch immer evident sind.
Demnach forderte ich, uns mit dem Gedicht erst ab dem Vers »Hadd lássam, úgymond, mennyit er a Wellsi tartomany« (als Edward sich fragte, was diese seine Kolonie Wales wert sei) auseinanderzusetzen. Und Matthias Corvinus, alias Mátyás Király, habe uns überhaupt nichts anzugehen, insbesondere nicht nach all den Erfahrungen, die wir mit seinen Nachfahren gemacht hätten, die uns hierher zu dieser herrlichen Schulstunde gebracht hätten. Es entstand ein Chaos. Ich wurde mit Gewalt vom »Unterricht« entfernt (was mir auch später, in der Nachkriegszeit, noch oft passieren sollte), und während Vámosi mich hinausdrängte, brüllte ich aus vollem Hals: »A radványi sötét érdében halvatalálták Bárczi Benő, ime bizonyság az Isten elött«, und noch lauter werdend: »Eroszak ölte meg öt!« (Übersetzt bedeutet das ungefähr: In den düsteren Wäldern fand man den toten Bárczi Benö, ein Beweis vor Gott, daß er das Opfer eines gewaltsamen Todes war.)
Der Rauswurf kam mir nicht ungelegen, eigentlich wollte ich mich selbst gerade entfernen. Als ich zu meinem Beobachtungsposten kam, begann es mich zu jucken. Zuerst unbestimmt. Ich hatte eine große Erfahrung darin, wie der Biß einer Wanze oder der Biß eines Flohs juckte. Das war indessen etwas Neues. Das Jucken schlich auf mir herum wie ein dünner und sehr bestimmter Faden vom Hals in Richtung Arm und dann den Rücken hinunter. Ich versuchte mich zu kratzen, aber es wurde immer schlimmer. Ich kratzte mich lange, indem ich den Rücken am Pritschenrand rieb.
Dann erschien Olga, strahlend sauber und ordentlich in ihrem »Kostüm«, das kein Kostümbildner der Welt, nicht einmal für eine Humoreske dieses Genres, auszudenken imstande gewesen wäre. Sie hatte Endres Breeches an, seine Halbschuhe Größe vierundvierzig, ihren eigenen kurzen Wintermantel, darunter ein weißes Herrenhemd; um den Kopf hatte sie ein sauberes Stück Sackleinen in Form eines Turbans gebunden (ich benützte so etwas anstelle der Strümpfe), weil sie der Meinung war, daß sie, so ungeschoren wie sie war, unordentlich aussah. In der Hand trug sie die Arzttasche, die sie genau wie Endre immer mit sich schleppte. Obwohl die beiden auf zwei verschiedene Arten und in zwei verschiedenen Orten deportiert worden waren, begegneten sie einander mit meiner Assistenz (ich war von Anfang an mit Olga zusammen) ganz zufällig in dem berühmten Sammellager Straßhof bei Wien. Bei dieser wahrlich unwirklichen Begegnung trugen sie beide ihre Arzttaschen in der Hand. In jeder von ihnen steckten die wichtigsten ärztlichen Instrumente jener Zeit, Spritzen, Blutdruckmesser, eine kleine chirurgische Ausrüstung sowie Klistierspritzen.
Als wir in Bergen-Belsen wie eine irre Horde einzogen (alle außer Olga, die gemessenen Schritts und gerade wie ein Pfeil daherkam), ließ uns ein wichtiger, dicker deutscher Soldat, der offenbar einen höheren Rang hatte, antreten. Ich werde ihn im weiteren Hauptmann nennen, weil wir ihn zu Recht oder zu Unrecht so nannten. Plötzlich forderte er alle Ärzte auf vorzutreten. Ich starrte ihn an und fragte mich, was er eigentlich vorhatte. Darauf stellte ich fest, daß er offenbar auch ein Arzt war. Neben anderen Zeichen prangte an seinem Kragen auch ein Äskulapstab, das gleiche Abzeichen, das auch mein Vater, als er Militärarzt war, getragen hatte. Jetzt war er weder Militär noch Arzt. Der Hauptmann trug eine Brille und sah ihm irgendwie ähnlich. Als die Ärzte vorgetreten waren (unter ihnen auch Olga in dem schon beschriebenen Kostüm), blieb der Hauptmann vor ihr stehen und fragte beinahe entsetzt: »Sie sind Arzt?« Worauf sie ruhig antwortete: »Ich bin Arzt«, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Dabei hatte ich den Eindruck (und er offenbar auch), daß sie ihm zugleich zur Kenntnis bringen wollte: »Ja, ich bin Arzt, und du und deinesgleichen seid schuld daran, daß ich hier bin, daß ich so aussehe und daß du Dummkopf mich ausfragst.«
Damit war die Sache damals erledigt. Aber von da an war der Hauptmann immer für Olga da. Er richtete ihr eine Ambulanz ein, brachte jeden Tag die notwendigsten Medikamente und beschützte sie irgendwie.
Wir sind eigentlich da stehengeblieben, wo sie aufgetaucht ist. Ich haßte ihren Turban, ihre Ordentlichkeit und ihre Selbstsicherheit. Sie war ewig ernst, wichtig und irgendwie düster. Auch diesmal:
OLGA: Was machst du da?
ICH: Ich kratze mich.
OLGA: Warum?
ICH: Weil es juckt.
OLGA: Dich juckt immer etwas.
ICH: Aber diesmal ist es objektiv.
OLGA: Wieso?
ICH: Wegen Matthias Corvinus. OLGA: Dich juckt es nach Hieben. ICH: Es scheint, es handelt sich um eine Laus. Um eine gebildete Laus sozusagen. OLGA: Was redest du da für einen Unsinn? ICH: Vámosi ist der Meinung, Matthias Corvinus sei in der Weltgeschichte wichtiger als Edward auf seinem fahlen Roß. Ich bin damit nicht einverstanden. Ich habe es ihm gesagt, und er hat mir darauf aus Rache seine hungrigste Laus überlassen, die jetzt auf mir herumkriecht, auf der Suche nach einer Heimstatt, und ich weiß nicht, was ich im Hinblick auf sie und Vámosi tun soll.
OLGA: Zieh dich aus!
ICH: Ich will nicht.
OLGA: DU tust sofort, was ich sage!
ICH (schaue mich um, wohin ich abhauen könnte.)
OLGA: Gib mir dein Hemd!
ICH: Ich will nicht.
OLGA: (kommt näher auf mich zu.)
ICH (während ich auf meine Pritsche steige): Es ist unmoralisch, mich tagsüber vor Männeraugen auszuziehen.
GROSSMUTTER GISI (von der unteren Pritsche): So ist es.
OLGA: Mama, schweigen Sie! ICH: Mama, schweigen Sie! OLGA: Komm sofort herunter! ICH: Ich will nicht.
Endre kam herein, die Arzttasche hielt er in der Hand. Olga erzählte ihm von dem Problem. Er nahm seine Decke und kletterte damit zu mir auf die Pritsche hinauf, um mir einen Paravent zu machen. Ich gab ihm das Hemd, das er vorsichtig entgegennahm, dann nahm er seine Brille ab, zog seine Jacke aus, rollte die Hemdsärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Nach kaum zehn Minuten hatte er sie, eine schöne,dicke Laus von der Farbe menschlichen Fleisches und voll von meinem Blut. Meine Blutsschwester. Sie hauchte ihr Leben unter Endres Nägeln aus, und mein einziges warmes Hemd wurde vorläufig ins Wasser zum Waschen geworfen.
Olga wusch gewöhnlich abends. Bis zum Morgen war die Wäsche trocken. So wurde ich aber schon am Nachmittag dazu verurteilt, auf meinem Beobachtungsposten zu hocken, und so kam es - aus Rache - zu der schon erwähnten Episode mit dem Marmeladeglas. Bela überfraß sich mit Marmelade. Tante Juza rief mir sporadisch zu: »Du hast kein Herz, mein Kind.« Worauf ich ihr antwortete: »Nicht für Läuse, wie Onkel Tausig sagte. Nicht für Läuse.« Und so war das der einzige Tag im Lager, an dem man versuchte, mich mit Gewalt zu bilden, aber ich ließ es nicht zu. Statt dessen erfuhr ich, wie Läuse jucken.
An diesem Abend siedelte ich in meiner grünen Menagerie eine grüne Stechmücke an, mit dem Ziel, mich von ihr stechen zu lassen, wenn ich »Madagaskar« zu Ende gelesen haben würde. Der Mückenstich bedeutete für mich die Freiheit, ich konnte es aber nicht so grandios formulieren. Auf jeden Fall bedeutete die Mücke für mich Sommer, Wiese, Horizont ohne Ende, ohne Menscheh, ohne Läuse und ohne Bildung. Diese grüne Mücke brachte ein neues Element in meinen Film - den Ton. Sie summte. So wurde mein Film mit einer Verspätung von ungefähr sechzehn Jahren ein Tonfilm, obwohl ich zur Zeit des Liedes »Sunny Boy« noch nicht einmal ein aufreizender Gedanke war. Auf jeden Fall war es schön so. Auf die große Tafel meiner Wünsche schrieb ich: Mückenstich. Irgendwann einmal und irgendwo, und dann mochte es jucken. Es sollte mich jucken bis zur Ohnmacht.
*
1+9 + 4 + 4=18. Und weiter. 1 + 8 = 9. Das bedeutete, das Jahr 1944 hatte mir wohlgesinnt zu sein. L)u kennst mein Verhältnis zur Neun. Erinnere Dich an das berühmte Pferderennen in Paris, als wir zum letzten Mal zusammen waren und die Stute, die unter der Nummer Neun lief, entgegen jeder Logik und der professionellen Voraussagen den Sieg errang. Gut, es war nicht viel Geld, weil ich nicht als einzige diese Kombination voraussah. Es gab offenbar noch andere Anhänger der Nummer Neun, doch für die angelegten fünfzig Francs bekam ich ganze tausendsechshundert beim einzigen Pferderennen meines Lebens, was keine so schlechte Sache war. Doch damals im Dezember 1944 erwartete ich am sechsten, am fünfzehnten oder am vierundzwanzigsten ein Wunder, weil die Summe aller Daten neun zu sein hatte und die Quersumme des zwölften Monats drei ergab.
Ich hoffe, Du verstehst das, aber es ist nicht wichtig, daß Du es verstehst. Da der sechste und der fünfzehnte Dezember ohne irgendein Wunder vorbeigegangen waren und beinahe auch das ganze Jahr, blieb, wie Du siehst, für den Glückstag nur mehr der vierundzwanzigste. Am vierundzwanzigsten morgens erfroren mir beim Appell die Beine, besonders das linke bis zum Knie. Das war der idiotischste Appell meiner ganzen Lagerzeit, und ich hatte obendrein noch hohes Fieber. Und war schlechter Laune. Es war ein ganz sinnloser Appell, der viel zu spät stattfand, sonst hätte mich Olga wegen meines Fiebers davon befreit. Aber sie und Endre waren schon in die Ambulanz gegangen, als es den Deutschen um neun Uhr vormittags jenseits aller Logik einfiel, uns antreten zu lassen. Vielleicht war es jemandem gelungen abzuhauen. Ich zog mich ohne irgendeine Aufsicht ganz oberflächlich an, kroch wütend aus der Breite, legte sie an und band meine Fußlappen unordentlich. Ich kam nicht einmal dazu, ein bißchen Stroh für die Isolierung zu stehlen. Und so, nach zwei Stunden vergeblichen Aufenthalts in starrer Haltung, bei Frost von minus fünfundzwanzig Grad und sinnlosem Abzählen von vorn und hinten, kehrte ich mit einem Bein weniger in die Baracke zurück. Doch später hatte ich dann ein Bein zuviel, weil das linke anfing, für zwei wehzutun. Es wurde rot, dann lila, dann begannen die Kapillaren zu platzen. All das war unendlich langweilig. Um die Mittagszeit kamen dann die Budapester.
*
Eigentlich gab es zu Anfang Lärm, dann Lieder, dann Lachen. Mein Gott, Lachen. Seit Jahrhunderten schon hatte ich kein Lachen gehört. Die Menschen hatten Angst vor dem Lachen, als könnten sie dadurch Unheil heraufbeschwören. Sie hatten weniger Angst vor dem Gejammere und vor Krankheiten, vor Trauer und vor dem Tod. Ehrenwort. Übrigens kann ich mich, abgesehen von einigen drastischen Fällen, nicht erinnern, wie in Bergen-Belsen gestorben wurde. Man starb irgendwie unauffällig, als handle es sich dabei um einen Nebenaspekt des Lebens. Da gab es alte Leute, kleine Kinder und Kranke, und überhaupt etwa fünftausend Menschen unter meiner Kontrolle. Ich weiß also nicht, sag' ich Dir, wie man dort starb, außer wenn man sie schlug oder wenn man schoß oder im Verlauf unserer Spiele beim Wetten am Tor.
Was das Schießen betrifft, so war es ziemlich selten. Sie hatten offenbar nicht genug Munition, wie heutzutage die Schinder in Belgrad. (Deshalb erschlugen sie die Häftlinge genauso wie die Belgrader Schinder die streunenden Hunde erschlagen.) Ich weiß nicht, ob es Dir bekannt ist und ob Dich das überhaupt interessiert, was hier mit den streunenden Hunden passiert, und das unter der Schirm herrschaft unseres jeweiligen Stadtvaters. Man fängt sie und schlägt sie tot. Ganz einfach, zweimal wöchentlich, dienstags und freitags. Die Munition ist teuer, sagen sie, das Gift ist teuer, eine tödliche Injektion ebenfalls. Am besten kommen Hunde davon, die man zu tierärztlichen Versuchen schickt. (Eine Art Mengele für Tiere.) Sie werden angeblich eingeschläfert. Man protestierte leise dagegen - der Tierschutzverein, einige rührige alte Frauen, ein paar junge Leute und am lautesten ich. Und nichts. Nachher dachte ich - diese Logik kenne ich ja. Es beruhigte mich nicht gerade, aber ich begriff: Da ist nichts zu machen. Genauso, wie es einige in bezug auf BB versuchten, ohne etwas zu erreichen. Und ich hörte auf, an streunende Hunde zu denken, wie ich aufgehört hatte, an die Menschen zu denken, bis Rubi Trebitsch mit seiner Gitarre und seiner Mundharmonika auftauchte. Und so lernte ich, mit einem erfrorenen linken Bein, das ich, mich nach hinten beugend, kratzte, in einem Augenblick zu lieben. Nämlich…
*
Am Abend des 24. Dezember 1944 eröffneten die Budapester nach der vorher glänzend durchgeführten Reklame das erste BB-Ka-ba-rett. Es tut mir leid, daß dieses BB für heutige Ohren,' wie ich schon sagte, Brigitte Bárdot oder die Eisenbahnlinie Belgrad-Bar oder etwas Drittes bedeutet. Für mich wird es immer das Lager Bergen-Belsen bleiben und das Kabarett in ihm. Als ich an diesem Tag zu Mittag hinauslief (am 24. Dezember 1944 um zwölf Uhr und fünfzehn Minuten), blieb mir beinahe der Atem weg. Ich erblickte die bunteste Gesellschaft, die man sich vorstellen kann.
Man hatte für diesen Transport das ganze Publikum und die Protagonisten eines Budapester Kabaretts zusammengetrieben, Juden und Gojim durcheinander. Da aber das alles auf einem viel zu hohen professionellen Niveau war (Pelze, Abendkleider, Fracks und sogar Schmuck) und um keine allzu feine Ware für diese problematischen Last-'wagen zu liefern, hatten die Deutschen noch etwa fünfzig taubstumme und verrückte Juden aus verschiedenen entsprechenden Institutionen geholt und sie dem ursprünglichen Haufen hinzugefügt. Doch das verdarb keineswegs die Laune der »normalen« Ankömmlinge. Obwohl auch sie, genauso wie wir, ungefähr eine Woche in den Viehwaggons verbracht hatten, fünfundsiebzig Seelen pro Waggon, ohne Nahrung und mit sehr wenig Wasser - die letzten zwanzig Kilometer hatte man sie sogar dazu gezwungen, zu Fuß zu gehen, weil die Strecke bombardiert worden war -, obwohl sie also keinen Grund dazu hatten, kamen sie fröhlich und ausgelassen wie jede professionelle Wandertheatertruppe an einem neuen Ort an.
Die Taubstummen hatten sie in der Zwischenzeit ein bißchen dressiert und die Verrückten in Ordnung gebracht und hübsch ausstaffiert. Die letzteren waren im Unterschied zum Kabarettpublikum alle in gestreiften Pyjamas angekommen und wurden so zu unseren privaten »Häftlingen«. Wir alle wurden bald benachrichtigt, daß in der »neu eröffneten Baracke V B ein Programm für alle Anwesenden in unserer Lagerabteilung veranstaltet wird«. Eintrittspreis: freiwillige Spenden. Als Olga, aus der Ambulanz kommend, an einen ihr verdächtig erscheinenden Taubstummen herantrat, der vor unserer Baracke mit dem Transparent »Eingeladen ist jeder, dem es hier schlecht gehn soll. Er möge nur kommen und wird lachen wie toll.« herummarschierte, und ihn fragte, ob er Läuse habe, blieb der Unglückliche verblüfft stehen, zuckte die Achseln und stammelte »egy-ketü-tetü«, was buchstäblich übersetzt ein bis zwei Läuse bedeutete, aber treffender mit dem Wortspiel »Eine Laus kommt selten allein« zu übertragen sei.
*
Ich fing an zu überlegen, wie ich es anstellen konnte, am Abend zum Kabarett zu entfliehen. Das schien unmöglich. Sollte ich die Alten einschläfern? Aber womit? Mit einer Keule oder mit Morphium? Das könnte ich aus der Ärztetasche stehlen. Sollte ich in Ohnmacht fallen, damit ich ihnen leid tat, sollte ich ihnen alles über die Nummer Neun erklären oderihnen das absurde Versprechen anbieten, in Zukunft brav zu sein? Am Ende fiel mir die rettende Idee ein: Durchfall. So begann ich ab etwa vier Uhr nachmittags alle halben Stunden in die Latrine zu gehen, sowohl in die männliche als auch in die weibliche, und ich teilte es so ein, daß mein neunter Abgang um neun Uhr stattfand. Dann drehte ich ein bißchen nach rechts ab, bezahlte den Eintritt mit einem Stückchen Brot und zwei Würfeln Zucker (Quargel wollte ich nicht für etwas geben, was ich noch nicht gesehen hatte) und lief so unter den letzten in die Baracke V B.
*
Auf der improvisierten Bühne stand ein oberflächlich maskierter »Greis« und um ihn herum drei ähnlich hergerichtete weibliche Gestalten. Der Greis hielt seine Hände ausgestreckt wie ein Blinder, und er tat auch so, als sei er blind. Vor der »Bühne«, die aus umgedrehten Pritschen bestand, saß, von seinesgleichen umringt, der mir schon bekannte Taubstumme und wiederholte in einem fort »egy-ketü-tetü«, und die um ihn herum fügten »ch-ch-ch« hinzu.
DER BLINDE: Khönig ohne Khönigreich. Ich verdammter Vater ohne meine Töchterchen. So geschah es mir, daß ich hieß Lear, und so traf mich ein thrauriger Jüngling. Er hieß Rhomeo, und da fragte mich Rhomeo: Hör mal, Rebbe Lear, der Segen sei mit dir. Sag doch, sag doch, warum die Juden über die ganze Welt verstreut sind. Und ich sagte zu ihm: Damit sie besser aneinander vorbeigehen können. DIE TÖCHTER: Haber täte.
DER BLINDE: Oh, höre du Rhomeo, warum bist du Rhomeo, wenn du nicht weißt, wher uns hier so versammeln heißt. (Und da beschleunigte er den Rhythmus.) Und macht dann ein Feuerchen und ein Scheiterhäufchen', zu wärmen sein Völkchen.
ROMEO (stürzt auf die Bühne): Wher? Ch.
CHOR DER TAUBSTUMMEN: Ch-ch-ch.
ERSTE TOCHTER: Haber täte.
DER TAUBSTUMME: Egy-ketü-tetü.
DER BLINDE (nimmt seine Gitarre, an der eine Mundharmonika befestigt ist, singt):
Heut nachmittag kehrte ich hier im Wirtshaus ein.
(Plim-plom)
Und bestellte Fleisch zum Essen.
Der Kellner sagte: Das können'S vergessen,
denn Fleisch gibt's keins mehr.
Da wollte Brot ich haben.
Er sagte: Bedaure sehr.
Dann bat ich um etwas Salz
vom Kellner. Oh Schreck!
(Rezitativ)
Als ich anhob zu gehen, war mein Mantel weg.
Na schön, Leute. Was ist das für ein Wirtshaus hier? Doch jenen ehrlichen Finder, dem es gelungen ist, meinen Mantel zu stiebitzen, bitte ich, auf meine speziell dressierte fleckige Laus achtzugeben, die, wie ich höre, eine Doktorin sucht. Die Laus wohnt in der Naht des rechten Ärmels. Ich bitte ihn, sie mir zurückzugeben, damit sie sich nicht allein fühlt. Er soll sie zu ihrer Herde zurückschicken.
*
DRITTE TOCHTER: Haber täte.
DER BLINDE: Man nennt mich Lear, so geht es mir, im Dunkeln trink ich Bier. Hier herrscht eine grausliche Finsternis - ch-ch-ch. Und eine unheimliche Stille. Nicht einmal der Rundfunk hat mehr Kraft, wenigstens einmal im Monat zu berichten. Und er lügt ständig.
CHOR DER TAUBSTUMMEN: Ch-ch-ch.
DER BLINDE: Schrecklich lügt er. Und das alles wegen dieses Typs. Nicht einmal seinen Namen trau ich mich zu sagen. Ich hhhhabe Angst. Wir alle hhhhaben Angst vor ihm. Und wir hhhhassen ihn.
CHOR DER TAUBSTUMMEN: Ch-ch-ch.
DER BLINDE: Wenn es uns zustößt, wenn es uns nämlich passiert, versuchen wir zu erraten, wer es sein khönnte. Sein Name beginnt mit dem Bhuch-staben … mit dem Bhuchstaben … Welcher Bhuch-stabe ist uns heute abend hüberflüssig erschienen? Ein khleines Buchstäbchen. Was sagst du, kleine Häßliche?
ICH (stehe auf): Der überflüssige Buchstabe ist H.
DER BLINDE: Ausgezeichnet! Der Buchstabe H. Wenn es uns zustößt. Kann uns jemand sagen, welcher Buchstabe als nächster nach dem H aufscheint? Du kleine Schwarze, Häßliche? Nichts.
CHOR DER TAUBSTUMMEN (tut so, als lache er): Hi-hi-hi
DER BLINDE: Wir wissen noch nicht, welcher Buchstabe das sein sollte. Welcher Buchstabe? Was hassen wir? Was stört uns im Hieben? Buchstaben! Seid ihr alle da? Hi? Hi? Gut. Leute, lauft nicht weg! Es ist nicht das, was ihr glaubt. Es ist Hy-hy-Hypothek.
ALLE DREI TÖCHTER: Haber täte.
*
Ich kann nicht behaupten, daß ich wußte, was eine Hypothek war. Aber auf irgendeine Weise wurde mir klar, daß all diesen Leuten, die auf den umgestülpten sogenannten Betten saßen und mit schmutzigen Fetzen bedeckt waren, die Situation komisch erschien. Ebenso wurde mir klar, daß mein ganzer Konflikt, das heißt mein Konflikt mit der Umgebung und darüber hinaus mit mir selbst schon seit jeher darin bestand, in meiner Seele im Grunde alles, was man als schrecklich ansah, automatisch komisch zu finden. Khomisch. Um das alles ertragen zu können. Aber bis zu diesem Augenblick traute ich mich natürlich nicht zu lachen. Die Mensehen um mich herum kugelten sich vor Lachen. Alle. Die Darsteller, das Publikum und ich, das einzige Kind in diesem gesamten Spektakel.
Zuerst grinste ich nur vorsichtig wie eine kleine Ratte, das heißt, ich ließ meine oberen, ohnehin zu großen Zähne hervorlugen. Dann stieß ich unwillkürlich so ein Ch-ch-ch hervor, und schon wurde ich zu einem integralen Teil der Taubstummen und skandierte mit ihnen: »Egy-tetü-tetü-ch-ch!« Währenddessen reihten sich auf der Bühne verschiedene Darsteller aneinander und sprachen über irgendwelche, für die anderen komische, Dinge, und ich fühlte mich wohl und leicht, und es tat mir leid, daß ich nicht eine kleine Reserve mitgenommen hatte, noch ein 'Stückchen Zucker oder Quargel, um sie diesem unglückseligen Chor zu geben.
Niemals, weder vor noch nach diesem Ereignis, fühlte ich mich ohne jede Zurückhaltung und jeden Übergang so in meinem Element, so frei und offen allen gegenüber und so bereit zu lieben, oder sagen wir, wenigstens zu hlieben. Das war ungefähr der Text meines ersten »BB-Ka-ba-retts«.
Nach dem »dramatischen Teil« begannen sie zu singen, lauter schrecklich schöne Lieder, und wir sangen alle mit, wenigstens ein Summ-Summ als Refrain, und da begann jemand Witze zu erzählen, und einige aus dem Publikum stiegen auf die »Bühne«, um uns etwas vorzuführen, und alle liebten einander, und dann - als das Licht schon längst gelöscht worden war - dann verabredeten alle ein neues Programm für morgen und versprachen, daß dieses neue Programm auch aktuelle Tagesnachrichten enthalten werde, für die der anwesende Journalist Takacs sorgen werde, und versprachen uns neue Lieder, für deren Zusammenstellung der berühmte Schauspieler und Sänger Rüben Trebitsch seine Mitarbeit zugesagt habe, und versprachen uns eine Reihe abgestandener und eine Reihe frischer Witze und auch, daß der Chor der Taubstummen uns eine für ihn eingerichtete Rede Ciceros vorführen werde, und alle waren sehr glücklich, und ich kam freudig erregt nach Hause, und dann ging der Krach los.
An den nächsten Tagen durfte ich natürlich überhaupt nicht ausgehen. Es juckte und tat weh, und ich hatte Temperatur und wurde bestraft. Und Bela Lux, dessen Mutter obligatorisch jeden Abend ins Kabarett ging, erzählte mir, das Programm werde immer besser, sie hätten auch über mich gesungen, wie ich mich kratzte und wie ich das erste Opfer der wahren Kunst in diesem Monat geworden sei.
Am 28. gab es wieder einen Appell. Ich wurde befreit. Es gab ein großes Geschrei: Die Deutschen hatten vom Kabarett erfahren und es strengstens verboten.
Am 29. fand das Kabarett im Dunkeln statt. Als jedoch gegen zehn Uhr nachts der alte Onkel Barnabas Roth im Schatten der Baracken auf sein »trautes Heim« zuschlich, wurde er erwischt, verprügelt und draußen im Schnee liegengelassen,damit er dort erfriere, was auch geschah. Er war der lauteste und lustigste Zuschauer gewesen. Am 30. herrschte Totenstille.
*
Ich wußte es. Ich wußte, daß sie etwas vorbereiteten. Ich wußte, daß sie uns nicht verlassen würden. Ich hörte in diesen Tagen Vorwürfe und Worte der Feigheit, zweitausendjährige Verwünschungen, Anathemata, hebräische, ungarische, deutsche, jiddische, serbische Weisheiten, ich hörte in allen Sprachen: »Wir haben gewußt, daß es so enden würde. Das haben wir gewußt!« Ich wußte etwas anderes. Am 31. abends, nach neun Uhr, hörte man in unserer Baracke, als beinahe schon alle eingeschlafen waren und als man über das neue Jahr weder denken noch laut sprechen durfte und konnte, Gitarrenmusik. Es war nur ein Akkord, ein trauriger Akkord. Heute weiß ich es: in Moll. Und dann hörten wir noch einen Akkord und noch einen und die mir bekannte Stimme sprach oder sang oder weinte ohne Tränen: »Jischkadal we jischkan-dasch schme rabo …« Rubi sprach unter Begleitung seiner Gitarre und der Mundharmonika, die daran befestigt war, den ungewöhnlichsten Kaddisch des vieltausendjährigen jüdischen Sterbens. So begann unser BB-Kabarett in der Baracke IX A, das drei Monate und fünfzehn Tage dauern sollte.
Am nächsten Tag, vormittags, vor der Baracke, der 1. Januar 1945. Macht in Summe drei. Nicht der schlechteste Tag nach seiner numerischen Bedeutung. Es gab keine Appelle, die Sonne schien scheinen zu wollen, ich hörte ein Plim-plom. König Lear ohne Kinn- und Schnurrbart saß auf einer Kiste, an die Baracke IX A gelehnt, spielte zugleich Gitarre und Mundharmonika und sang von Zeit zu Zeit. Neben ihm saß mit einer endlosen Seligkeit im Gesicht der Mann mit den ein, zwei Läusen. Sie sonnten sich. Ich gehe auf sie zu.
ICH: »He.«
ER: »He.«
DER TAUBSTUMME: »Ch-ch-ch.« Stille.
»Darf ich mich setzen?« »Du darfst dich setzen!« »Und was ist das?« »Da blase ich hinein.« »Und was ist das?« »Darauf trommle ich.« »Und was ist das?« »Damit singe ich.« »Und was ist das?« »Damit schaue ich.« »Und wer bist du?« »Rubi. Rubi Trebitsch.« »Und wer bin ich?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob du ein Bub oder ein Mädel bist.« »Soll ich jetzt gehen?« »Du sollst gehen.«
Ich ging. Ich wurde plötzlich traurig, wollte gern zurückkehren. Nach jenem Kaddisch gestern Abend hat er ein Lied gesungen, in das fast alle einstimmten, das ich aber nicht kannte. Es handelte von einem Hahn, der schon zu krähen angefangen hatte, um die Morgenröte anzukündigen. Dank meines Interesses für die Dichtkunst wußte ich, daß es sich dabei um eine Art »Symbolik« handeln mußte. Dieses Wort hatte ich von den ehrwürdigen Schwestern im Zusammenhang mit der Heiligen Maria gehört. Und so begriff ich, daß jemand irgend etwas erhoffen konnte, so lange er dem Hahn glaubte. Das schien mir idiotisch. Ich war ganz durcheinander und beschloß, zum nördlichen Meridian zu gehen. So nannten wir eine entfernte Ecke im Lager. Der andere »Meridian« war aus dem Buch »Madagaskar« und ich wußte nicht, was er bedeutete. Aber von diesem Meridian aus konnte man die Häftlinge beobachten.
*
Die Häftlinge waren jene Juden oder Gojim, die Joel Brandt nicht gekauft hatte. Sie waren von ihren Familien abgesondert (die es in den meisten Fällen gar nicht mehr gab) und lebten getrennt inmännlichen und weiblichen Lagereinheiten. Sie hatten kein Privateigentum, waren in gestreiftes Sackleinen gekleidet und wurden dank einer erfolgreichen ernährungs-kosmetischen Behandlung zur absoluten Gleichheit degradiert. Aus diesen Häftlingen wurden durch ein weiteres technologisches Verfahren lebende, das heißt tote Leichen, auf die Agi, Gabi und ich am Tor Wetten abschlössen. Es war verboten (von Olga), sie zu beobachten, weil sie für ein Kind kein schöner Anblick waren. Eigentlich war um mich herum nichts ein schöner Anblick für ein Kind. Doch die Erwachsenen hatten (und haben) in jeder Situation irgendwelche Kategorien, die für mich bis heute unklar geblieben sind. Nach diesen Kategorien gehörte ein Häftling (ohne seine persönliche Schuld, aber nach Lagermaßstäben) klassenmäßig zu einer niedrigeren Schicht als wir und war als solcher kein schöner Anblick. Die dicke Großmutter Lich-towitz hingegen war, während sie neben dem Loch in der Latrine ihre Notdurft verrichtete, ein schöner Anblick. Das Töten der Ratten vor der Baracke an jedem Freitagmorgen gehörte zu den schönen, jedenfalls nicht zu den häßlichen Anblicken. Und deshalb hatte ich beschlossen, mir etwas Häßliches anzusehen. Nur um nicht zu Rubi zurückzukehren.
*
Im Häftlingslager herrschte Gedränge. Zwei deut sehe Soldaten bewarfen die Häftlinge mit Rüben. Wo immer eine Rübe hinfiel, warf sich ein ganzer Schwärm von Häftlingen auf den Boden. Wenn einer von ihnen eine Rübe erwischte, begann er sie, so schmutzig und erdig, wie sie war, zu essen. Einige versammelten sich in Erwartung einer Rübe gleich wieder um die Deutschen, andere blieben liegen. Das waren unsere Klienten für den Nachmittag, dachte ich mir und ging, um meine Freundinnen zu suchen. Man mußte sich etwas ausdenken, um dieser blöden Vera Pick ein paar Scheiben Salami zu entlocken.
*
Am nächsten Tag um zehn Uhr vor unserer Baracke.
ICH: »He.«
ER: »He.«
»Und warum bist du hier?«
»Und warum bist du hier?«
»Keine Ahnung.«
»Ich bin wegen diesem >Hi< hier.«
»Hi?«
»Hi.«
»Darf ich mich setzen?« »Du darfst.«
*
So erfuhr ich, daß es in Budapest ganz erträglich gewesen war und daß die Juden nicht massenhaft deportiert wurden. Nur einzelne Männer führte man zur Zwangsarbeit ab oder zu irgendwelchen noch schlimmeren Abenteuern, wenn sie Kommunisten waren. Die übrigen wurden in eine Art Ghetto zusammengedrängt. Schön, in einer Wohnung wurden zwei, drei Familien zusammengepfercht, fast normal. So lebten die Menschen, aßen, tranken und überlegten: Wird's? Wird's nicht? Und dann brachte man Rubi und seine Eltern ins Ghetto und mit ihnen ihren Hund Tschutak, was auf deutsch Kolben bedeutete, Maiskolben. Tschutak war ein ungarischer Schäferhund, ein Puli, schwarz und mit vielen Zotteln.
Rubi hatte eine Schauspielschule absolviert und Jus studiert. Eigentlich konnte er nicht mehr ganz jung sein, obwohl er einen guten Eindruck machte, weil er nicht so war wie die anderen Erwachsenen. Er wurde nicht zum Militär eingezogen, weil er Jude war, und man führte ihn nicht zur Zwangsarbeit ab wegen seiner Großmutter, die Katholikin war, und wegen deren Familienschmuck. Und so lebten sie eine Zeitlang alle schön und glücklich und sangen und jaulten, jeder nach seiner Begabung, bis eines Tages ein Judenrat den Beschluß faßte, daß man in den Ghettos keine Hunde halten dürfe, weil das zu »auffällig« sei und »provozieren« könne. Dann führte Rubi seinen Hund Tschutak zu irgendwelchen Bauern, denen er vertraute. Als sie auseinandergingen, versprach er
Tschutak, weiter zu singen, und er, Tschutak, solle weiterhin ein Hund bleiben, und er versprach ihm noch, er werde ihn wieder holen. Als er in seine Wohnung zurückkam, war es ihm zum Weinen, und er nahm seine Gitarre mit der Mundharmonika, ging in den Keller, sammelte seine Requisiten, fand einige »Seinesgleichen« und ging los, um aufzufallen und zu provozieren. So wurde das erste Budapester Ghetto-Ka-ba-rett geboren, das jeden Abend ein neues Programm bot.
Viele Menschen gingen hin, und nicht nur Juden. Es kamen auch Menschen, die nicht im Ghetto lebten. Einige nichtjüdische Schauspieler gesellten sich dazu und brachten neue Kostüme, Texte und Lieder mit. Und Nachrichten. Und Witze. Eigentlich wurden Witze am meisten verlangt. Wie zum Beispiel der: »Wissen Sie, was Moral ist? Sie wissen nicht, was Moral ist? Ein Kunde betritt mein Geschäft, kauft für sechzig Filier ein, gibt mir einen Hunderter, nimmt die Ware, vergißt das Retourgeld und geht weg. Und jetzt kommt die Moral: Soll ich das Retourgeld behalten oder es mit meinem Partner teilen?« Oder der Witz über die Relativitätstheorie. Ich: »Was ist die Relativitätstheorie?« Rubi: »Das wirst du gleich sehen.« Dann sagte er: »Nach Einsteins Relativitätstheorie würden die Ungarn sagen, ich sei ein Ungar, und die Franzosen, ich sei ein Kosmopolit. Wenn wir's ohne Relativitätstheorie nehmen (so wie es eigentlich ist), würden die Franzosen sagen, ich sei ein Ungar und dieUngarn, ich sei ein Jude. Verstehst du das?« »Alles außer das Wort Kosmopolit.« »Nicht so wichtig.« »Und dann?«
»Und dann nahmen sie eines Abends im Dezember die ganze Gesellschaft hopp, während ich nach den aktuellen Nachrichten den König Lear und die anderen das Ihre spielten, aber ohne den antiken Chor, und verfrachteten uns in jene schönen, komfortablen Viehwaggons, die du sicherlich schon kennst. Ich war auf der ganzen Reise damit beschäftigt, meinen Text für ein neues Publikum zu bearbeiten, obwohl ich nicht wußte, wie mein neues Publikum sein würde. Nach der Grenze stießen diese außerordentlichen >Statisten< in ihren wunderschönen Kostümen zu uns, und so bekam ich Verstärkung in der Gestalt eines antiken Chors.«
Ich war stolz darauf, daß ich ungefähr wußte, was ein antiker Chor war.
»Und wie kommst du jetzt in die Baracke IX A?«
»Weil wir beschlossen, uns über die einzelnen Baracken aufzuteilen und aus jeder ein Ka-ba-rett zu machen. Mit Schauspielern und dem Publikum.«
Es war sehr einfach. Man durfte nach neun Uhr nicht mehr hinausgehen. Man würde nach neun ganz einfach nicht mehr hinausgehen. Die Schauspieler und das Publikum würden drinnen sein, und das Programm würde nach gewohntem Brauch ablaufen.
»He.« »He.«
»Du bist allein hier?«
Er spielte, ohne mir eine Antwort zu geben, ein Lied:
Da hast du ein Märchen zweihundert Meilen lang,
mit blauen Weiten, hoch hin und zurück, mit Raum für Flüsse und Berge und Meere, und eine Birke, mit schwarzem Blick.
Da hast du einen Fiaker mit Hahnenkamm, und einer Laterne von Captain Cook's Schiff, einen gelben Sessel, der Tage flicht, einen Kahn. In dem ankert der Hafen so tief.
Da hast du Champagnerschaum mit englischer Mütze,
einen Vogel, der zum Singen sich eine Harfe bestellt,
einen erfrorenen, trauergeschwellten Mond, und eine Handvoll Frieden für die ganze Welt.
So sehr lieb' ich dich.
Ich fand das Lied schön. Es war nicht gerade das schönste, ich hatte da mein eigenes, noch schöneres, aber doch sehr schön. »Warum bist du gerade in unserer Baracke?«
»Um dich zum Lachen zu bringen. Du bist komisch, wenn du deine Schneidezähne zeigst.« Ich grinste maximal und ging.
*
An diesem Tag passierte nichts mehr, außer daß der Hauptmann erschien. Er betrat nach dem Essen ganz wichtig unsere Baracke, gerade als Olga Wäsche wusch. Er begann die Frauen in der Baracke furchtbar anzubrüllen. Wie konnten sie nur Frau Doktor erlauben, die ohnehin den ganzen Tag für sie arbeitete, auch noch die Wäsche zu waschen. Vielleicht könnte sich unter ihnen, die vor lauter Faulheit krepierten, eine finden, die der Frau Doktor zur Hand ging. Sie könnten auch alle dem ein bißchen mehr Aufmerksamkeit widmen, was mit denen »da drüben« passierte. Sie könnten zum Teil auch der Frau Doktor dafür danken, daß ihnen so etwas nicht passierte.
Ich geriet in Panik, weil ich Angst hatte, daß Rubi anfangen könnte, ihn mit seiner Gitarre und seiner Mundharmonika zu begleiten, und versuchte, ihn mit Blicken daran zu hindern. Er war nämlich nicht weit von mir untergebracht, ebenfalls im ersten Stock, zusammen mit seinem taubstummen Burschen.
Alle zitterten, und Olga hörte auf zu waschen, hörte ihm einige Zeit ganz ruhig zu und verkündete dann, natürlich in perfektem Deutsch, daß sie auch weiterhin ihre Sachen waschen würde, »damit sie sauber sind«. Darauf drehte sie sich um und wusch weiter.
Der Hauptmann stutzte, räusperte sich und sagte: »Ja, wenn Sie es selbst sagen, Doktorin …«, und ging weg.
Es herrschte Stille. Ich verzog mich unter die Breite, wartete ab, daß Olga zu ihrer Nachmittagsarbeit ging, und bemühte mich, einen schwarzen Pudel grün zu färben und ihn zu lehren, mit einer grünen Stechmücke zu sprechen. Peterchen machte sich mit wichtiger Miene und seinem Brett auf den obligatorischen nachmittäglichen Latrinengang. Die Hausfrauen tauschten wieder Kochrezepte für Torten, Braten und den Wintervorrat, Großmutter Gisi ließ manchmal laut und entschlossen ihr »Joj nekem« vernehmen. Dieses »Weh mir!« klang in BB keineswegs überzeugender als einst in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung in Betschkerek, die ständig nach faulen Äpfeln stank oder roch. Es klang auch nicht überzeugender als das spätere »Weh mir!« in Subotica, wo sie bei Olga nur eine Couch besaß. Demnach hatte dieses »Weh mir!« in bezug auf die Umstände immer ein und dasselbe Gewicht. Ich beschloß, Rubi zu fragen, ob man darauf die Relativitätstheorie anwenden könne. Die von Einstein. Mir schien, das würde gehen.
*
Eines Abends nach Neujahr, als unser eigenes Ka-ba-rett durch zweihundertachtzig Stimmen, die Operettenarien oder chassidische Lieder sangen, deren Texte ich nicht verstand, aber deren Melodien mir noch immer gegenwärtig sind, schon eingeführt und erweitert war, kündigte Rubi eine neue Nummer an und sang ein Lied mit ungefähr diesem Text:
Drei kleine Kreaturen
verwandeln hinter der dürren Eiche
lächelnd in bares Geld
jede armselige Leiche.
Sie verstehn nicht zu leben,
auch zu sterben nicht,
sie sind kein Dunkel
und auch kein Licht.
Die drei kleinen Kreaturen
sind nicht schuldig,
stehn in der Kälte geduldig
am durchsichtigen Tor,
zählen Vergangne und Zukünftige,
haben nur dafür ein Ohr.
Vorm Tod ist ihnen nicht bang,
zählen Sterbende stundenlang.
Drei kleine Kreaturen
zählen bares Geld
hinter der dürren Eiche,
bis sie an einem weißen, heißen,
rechten, schlechten Tag erkennen eine bekannte Leiche.
Ich hätte auf Rubi schießen können, um ihm zu zeigen, wer hier eine Leiche war. Er hatte unser Spiel durchschaut. Er hatte uns wie die Erwachsenen nachspioniert und sang jetzt ein rührendes Lied darüber, als tue ihm das alles leid. Er hatte aber noch nie meine an den Leichen verdiente Beute, Salamischeiben oder Brot oder Würfelzucker, abgelehnt, denn, so sagte er, man müsse schon von klein auf begreifen, was Professionalität sei, und Professionalität bringe Geld. Er selbst war natürlich ein Professioneller und als solcher konnte er für seine Auftritte ein Honorar verlangen. Und die übrigen Bewohner der Baracke, die Taubstummen ausgenommen, sollten glücklich sein, wenn sich ihnen eine Gelegenheit zur Teilnahme am Programm böte. Und gerade wegen dieser Ambition des durchschnittlichen Zuschauers, sich in die erste Reihe vorzudrängen, entstand im »Programm« nach und nach eine gewisse Ordnung. Man wußte immer im vorhinein, wer singen und was er singen würde und wer wen, natürlich von seinem Platz aus, mit dem gewissen Summ-Summ begleiten würde und wer schließlich mit einem Löffel auf eine Konservendose oder auf Holz trommeln würde. Nur Rubis Programmteil war immer neu, »un-zensuriert und überraschend«. Die anonymen Mitwirkenden schlössen sich dann allmählich an.
Eines Abends, nach der überaus dramatischen Ausgabe von Marmelade und einigen meiner drastischen Interventionen, als wir uns auf unseren Pritschen eingerichtet und die Lichter gelöscht hatten und Rubi mit seinem Aviso fertig war, begann Tante Juza in der Art einer alten Hündin, die noch immer läufig wird, »Santa Lucia« zu singen. Es war schrecklich. Ich wußte nicht, ob ich mich vor Scham unter dem Strohsack verstecken oder zu schreien anfangen sollte. Ich entschloß mich, zu schreien, aber stumm. Ich schwor mir, ihr nie mehr den Diebstahl der Marmelade vorzuwerfen, wenn sie nur aufhörte zu singen, bis ich bis neun zählte. Sie hörte nicht so bald auf. Sie bekam sogar einen donnernden Applaus, und so blieb »Santa Lucia« an jedem Abend nach dem Aviso die erste Nummer.
Dann sang ein altes Ehepaar ein Duett über ein altes Ehepaar aus der Operette »Der Vogelhändler«. Eine gewisse Magda, die voll Haß in ihren grünen Augen unter den rötlichen, zerzausten Haaren immer wieder ankündigte, eine »Massenmörderin« zu werden, falls sie »nach dem Krieg« ihren Vater nicht finden sollte (die Theorie konnte sie schon hier lernen, und die Praxis auch), sang darauf das Lied »Wenn der Kranich aufbricht, um in den Süden zu fliegen …«.
Danach waren alle gerührt und einige Augenblicke lang war alles still, bis Rubi, begleitet von seiner Gitarre, die »Tagesnachrichten« verkündete. Heute scheint es mir, daß er eigentlich der erste
Protestsänger gewesen ist oder das, was Bob Dy-lan, als er klein war, werden wollte, nur daß bei Rubi alles auf Humor und einer gewissen Distan-ziertheit beruhte. Er war Chronist und scharfer Beobachter, aber die Dinge schienen ihn nicht besonders anzugehen. Nach den »Tagesnachrichten« meldeten sich neue Sänger oder alte Sänger mit neuen Liedern, oder man forderte die eine oder andere Wiederholung.
Ich erinnere mich an einen traurigen Baß, der einige Male das serbische Lied »Ein kalter Wind weht übers Feld, und auf die Erde fällt der Regen« sang. Ich bin sicher, daß er Regen sagte, obwohl später, als ich Serbisch gelernt hatte, in dem Lied 'nicht vom Regen, sondern von der Nacht die Rede war. Für den Regen hatte er den altmodischen Ausdruck »daschd« benützt, den er aber als »doschd« aussprach. Ich erinnere mich ganz genau daran, weil am nächsten Tag am Tor der Wetten Dori erschien. Dori war ein Junge aus Novi Sad. Er war etwas älter als wir. Sein richtiger Name war Theodor, »später« ließ er sich Toscha nennen, weil er als Serbe durchgehen wollte. Dahingehend hatte er auch seinen ansonsten sehr jüdischen Familiennamen korrigiert. Dori hängte sich öfter an uns an, weil er in Gabi verknallt war. Er war ganz allein in Bergen-Belsen und ganz gut erzogen. Er schleppte irgendwelche Schokoladen noch von »zu Hause« herbei. Da er verschiedene Sprachen sprach und ansonsten ziemlich zuverlässig war, fragte ich ihn, ob er wisse, was »doschd« bedeute.
DORI: Und weißt du, was ein »woschd« ist?
ICH: DU willst mich verarschen.
DORI: Das heißt Führer. Gemeint ist aber Kara-georg. Er war der Führer des ersten serbischen Aufstands gegen die Türken. Das war 1804.
ICH: Was du nicht sagst!
DORI: DU bist ein Dummkopf. Und wohin willst du »nachher« zurück? Willst du nach Ungarn? Lerne Serbisch, du elender Dummkopf!
GABI: Joj, und was soll ich lernen?
DORI: DU wirst nach Ungarn zurückkehren, das natürlich etwas kleiner sein wird als das, aus dem man dich geholt hat. Aber diese Gans wird nach Serbien zurückkehren, nach Jugoslawien sozusagen. Und dabei weiß sie nicht, was »doschd« und was »woschd« ist.
ICH: Ich werde hier krepieren und habe das deshalb nicht nötig. Ihr könnt dann auf mich wetten. Ich gehe selbst zu Fuß zum Krematorium.
RUBI: Auf wievielen Füßen?
ICH: DU spionierst schon wieder, du Verräter! Geh weg! Geht alle weg! Und ihr Erwachsenen sollt uns spielen lassen. Ihr habt uns doch das alles eingebrockt. Laßt uns spielen und uns unterhalten mit den Dingen, die wir hier finden können und die wahr sind. Und verspottet uns nicht! Sonst fange ich zu schreien an, schlimmer als Vera Pick, so daß alle SS-Männer und alle »doschds« und »woschds« zusammenlaufen. Verschwindet! Oder findet mir eine andere Unterhaltung oder ein anderes Geschlecht oder eine andere Welt!
Und dann begann ich zu weinen und lief unver-richteter Dinge in meine Baracke, wo ich mich unter die Breite verkroch und dort lange und unhörbar winselte. Ich hatte genug von allem, zum ersten Mal in meinem Leben.
Aviso. Santa Lucia.
Ein kalter Wind weht übers Feld … Der Vogelhändler.
Jede Baracke hatte einen sogenannten Stubenaufseher oder Präsidenten.
Bei uns war das ein stilles Männchen mit wunderschönen blauen Augen, weißen Haaren und sehr krummen Beinen. Er war eine schöne Erscheinung. Dazu war er auch streng, mischte sich aber nicht unaufgefordert in fremde Angelegenheiten ein. Er versuchte, so viel Ordnung zu halten wie nötig, um uns am Leben zu erhalten. So begann er, als er von unseren Wetten am Tor gehört hatte, nur zu singen, ohne vorherige Ankündigung.
Aviso.
Santa Lucia.
Zwölf Paar Stiefel. Das war für uns ein neues
Lied von einer Mutter, die jeden Abend ein Paar Stiefel weniger putzt, weil ihre Söhne, schön herausgeputzt, auf verschiedenen Schlachtfeldern fallen.
Der Vogelhändler.
Plötzlich eine neue Stimme. Der Stubenälteste Sabados. Seine blauen Augen singen das Lied von den vier Pferden.
Hör zu, Sascha.
Das ist ein Lied, das jedes Kind mit ungarischer Schulbildung kennt. Aber irgendwie bemerkt man es nicht, bis es einem auf die Hühneraugen tritt. Das Lied wurde vom Dichter Szép Ernő geschrieben und jemand hatte später die Musik dazu komponiert. Also der schöne Ernst. Es ist wichtig, Ernst zu heißen, weil mein Onkel so hieß, der seinen Neffen, das heißt meinen Bruder, persönlich an die Deutschen ausgeliefert hatte. So kam Ivan mit nicht ganz sechzehn Jahren nach Auschwitz. Er ist aber davongekommen. Wir sind eine schwer auszurottende Sorte. Nicht bei jedem wirkt Zyklon B. Aber die vier Pferde schafften mich völlig.
Der betreffende Ernst wünschte sich, als er noch klein war, nichts sehnlicher als ein Pferd. Und so kauften ihm seine Eltern ein hübsches, kleines Holzpferd. »Nicht ein solches Pferd wollte ich«, sagte er zu seiner Mutter. Sie kauften ihm ein größeres und dann noch ein größeres, und immer wieder sagte er: »Nicht ein solches Pferd wollte ich.« Nicht einmal ein Schaukelpferd wollte er, der Idiot.
Nach einiger Zeit starb seine Mutter und wie es sich gehört, zogen vier reichlich geschmückte schwarze Pferde ihren Sarg zum Grab. Und am Grab sang Szép Ernő wieder mit schmerzverzerrter Stimme, daß auch diese Pferde nicht seinem Wunsch entsprachen.
Darauf gingen wir nicht mehr zum Wetten ans Tor.
*
Ich erinnere mich noch an einige Alpträume. Auch an einige meiner idiotischen Versuche, Rubi nützlich zu sein. Wie nützlich? Ich konnte weder singen noch spielen, noch schauspielern. Ich konnte nichts, was man auch nur im entferntesten mit dem Kabarett in Zusammenhang bringen könnte, das heißt, Menschen zu erobern oder etwas Ähnliches. Ich war nicht einmal imstande, jenes »egy-ketü-tetü, hi-hi-hi« ordentlich zu skandieren, weil ich mich irgendwie schämte.
Rubi schlenderte jeden Tag durch seine Pfarrgemeinde, um Material für das allabendliche neue Lied zu sammeln. Das, was er aufführte, waren so etwas wie musikalische Abendnachrichten. Er erfuhr bei seinen Spaziergängen politische Nachrichten, Intrigen, die Zahl der Toten in der näheren und weiteren Umgebung, die Namen der Neuankömmlinge; soweit ich mich erinnern kann, gab es während meiner Zeit im Lager auch zwei Geburten. Er erfuhr, wer woran erkrankt war, welches alte Weib in den Wechseljahren sich in wen verliebt hatte oder welcher Deutsche, was sehr selten vorkam, »wegen allzu milder Behandlung der Häftlinge« an die Ostfront versetzt worden war. Irgendwie fand ich bei dieser Art der Nachrichtenbeschaffung eine Möglichkeit, um:
1. ihm nützlich zu sein
2. in seiner Nähe zu bleiben
3. mich unersetzlich zu machen.
Mit elf Jahren hat man noch kein Gefühl für Gefahren. So schlüpfte ich am 9. März 1945 das erste Mal durch den Stacheldraht zu den Polen und dann auch zu den Holländern und zu den Kommunisten. In diesem letzten Lager befand sich Onkel Bedö (von dem ich »Madagaskar« gekauft hatte), von dem ich höchst interessante Dinge zu erfahren hoffte, um so mehr, wenn man in Betracht zog, daß er von Olgas täglicher Tasse Milch abhängig war, und es hieß, er sei sehr geschickt und gescheit. Eigentlich war er nicht sehr geschickt, weil sich seine Knochen heute unter den Füßen der Touristen befinden, die sich voller Sadismus oder Masochismus, oder was weiß ich, geistigen Elektroschocks aussetzen, während sie sich in Ber-gen-Belsen herumtreiben. Aber ich muß zugeben, ich hatte dieses Schicksal nicht vorausgesehen, als ich so bläßlich und nichtssagend vor seiner Pritsche stand.
ICH: Onkel Bedö.
Beinahe hätte ihn der Schlag getroffen.
ICH: Onkel Bedö. Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit.
ER: Verkrieche dich sofort unter meine Decke.
ICH (verkrieche mich unter die Decke und flüstere): Ich bin wegen der Tagesnachrichten gekommen.
ER: Tages- was?
ICH: Nachrichten. Politische. Irgendeine Intrige. Oder ob jemand schwanger geworden ist. Oder sich die Syphilis geholt hat. Oder ob jemand Lebensmittel gestohlen hat. Oder Hiebe bekommen hat. Oder gestorben ist.
ER: Waas?
ICH: Ich habe nicht viel Zeit.
ER (kommt zu sich): Wer schickt dich?
ICH: Sie. (Das klang für mich überzeugend, für ihn aber offenbar auch)
ER: Aha. Na schön. Die Welt ist verrückt geworden. Hast du ein gutes Gedächtnis?
ICH: Ja, ich merk mir alles.
ER: BBC meldet…
Jetzt müßte ich lügen, wenn ich berichten wollte, was die BBC am 9. März Onkel Bedö gemeldet hatte. Aber damals habe ich mir alles schön gemerkt. Ich weiß nicht, woher er sich die Nachrichten beschaffte. Olga behauptet heute, er habe ein Radiogerät gehabt und sei auch deshalb umgekommen. Ich ging in der Dämmerung zurück, bevor Olga aus der Ambulanz zurückkehren sollte, schlich mich an Rubi heran und wiederholte ihm jedes Wort.
Rubi enttäuschte mich mit der lapidaren Bemerkung, es sei fein, daß ich rechtzeitig da sei und daß er mich schon erwartet habe. Er hatte gesehen, wie ich weggegangen und dann wieder zurückgekehrt war. Augenscheinlich spionierte er mir nach.
Ich wußte nicht, ob ich beleidigt sein oder mich geschmeichelt fühlen sollte. Später kam ich mir doch sehr wichtig vor, weil Rubis Lied am 9. März 1945 hauptsächlich aus den Fragmenten meiner ersten mündlichen Reportage bestand. Ich blieb anonym, wie auch später sehr oft. Aber das machte mir weder damals, noch macht es mir heute etwas aus. Ich ärgerte mich nur, daß ich ihm versprechen mußte, nur einmal in der Woche durch den Stacheldraht zu schlüpfen.
*
Als ich zum fünften Mal die Stacheldrahtgrenze zwischen Leben und Tod erfolgreich überschritten hatte, lief ich direkt in Tante Juzas Arme, was eigentlich nicht bedeutete, daß ich unkonzentriert gewesen war. Auch größere Spione als ich hatten so schon draufgezahlt. Tante Juza begann zu heulen wie eine trächtige Hyäne, die durch momentane Amnesie vergessen hatte, daß es ihr von der Natureingegeben war, sich nur mit Hi-hi-hi zu artikulieren. Aber das, was aus ihr hervorbrach, fing an, sich in etwas beinahe Artikuliertes zu formen und sich wie »Ooolga!« anzuhören.
Die Folgen waren fürchterlich, obwohl ich nichts gestanden hatte. Ich wurde ohne Anhörung und ohne Gerichtsverhandlung zu Hausarrest verurteilt.
*
An diesem Abend pischte jedes Kind, während »Santa Lucia« gesungen wurde, in eine Zehn-Liter-Konservendose, wie sie jede Familie als Nachtgeschirr aufbewahrte, für den Fall, daß eines der Familienmitglieder an Durchfall oder Blasenkatarrh erkrankte. Selbst Peterchen mußte sich erleichtern. »Santa Lucia« wurde nicht mehr gesungen.
*
Dann begannen die Tage, keine Tage mehr zu sein. Es gab keine Wetten mehr am Tor und kein Herumtreiben. Es gab nichts.
Am 10. April diagnostizierte Endre den ersten Fall von Flecktyphus. Es war Onkel Tausig, der seinerzeit den Rock mit den Läusen wahrscheinlich mitsamt dem Flecktyphus von Groß gekauft hatte. Er laborierte schon monatelang an einer Krankheit, die man bis dahin als »Lagerfieber« bezeichnet hatte. Zwei Tage nach der Diagnose starb er, als hätte er nur hören wollen, woran er tatsächlich erkrankt war.
Am 13. April setzte man uns plötzlich in Bewegung. Niemand wußte, warum und wohin.
Während wir durch das Lager gingen, stand am Tor der Wetten der Hauptmann. Als Olga und ich an ihm vorbeigingen, salutierte er. Olga gönnte ihm keinen einzigen Blick. Er tat mir irgendwie leid. Wir gingen über die breite »Avenue« zwischen der linken und der rechten Seite des Lagers, zwischen den Stacheldrahtreihen; es war derselbe Weg, auf dem wir vor langer Zeit ins Lager gekommen waren. Und den ich aus der Zeit, als wir noch zum Tor Wetten gegangen waren, gut kannte. Links und rechts von uns gab es Menschen. Seltsam, es waren Häftlinge. Sie riefen die Namen der Städte, der Städte, in denen sie gelebt hatten, als sie noch Menschen gewesen waren. Sie hofften, daß irgend jemand von uns aus ihrer Stadt stammen könnte und so imstande sein würde, jemanden von ihrer Familie zu benachrichtigen. In ihren Augen wirkten wir in unseren Zivilkleidern und mit Bündeln unserer Habseligkeiten in den Händen wie die Lageraristokratie.
Es war eine Straße, eine Avenue, wenn Du willst. Unpersönliche Gesichter hinterm Stacheldraht, und man hörte: Mártonvásár, Bor, Budapest, Amsterdam, Oslo, Warszawa, Bratislava, Katowicze, Subotica.
Olga bleib stehen. Und rief bewundernswert mutig: Subotica? Subotica?
Aus dem Lager der Unpersönlichen auf der linken Seite kam es: Subotica! Subotica!
OLGA: Aber wer ist aus Subotica? Wer?
DER UNPERSÖNLICHE: Olga! Olga! Frau Doktor! Ich bin's. (Springt in die Höhe, so weit er kann.) Ich. Hütter aus Subotica.
Wir mußten weiter.
*
Ich erinnere mich an den Zug. Er sah nicht aus wie ein schlechter Zug. Man erzählte, was sich als richtig erweisen sollte, daß wir in Richtung Theresien-stadt fahren sollten, der Phantomstadt der Deutschen für die übrige Welt, in der es sich angeblich »wie im Paradies« lebe. Man erzählte davon in diesen Waggons, die keine Viehwaggons waren, sondern normale Abteile der dritten Klasse, in denen jeder von uns seinen eigenen Platz hatte. Bevor wir den Zug bestiegen, bekamen wir sogar Brot und, zum ersten Mal nach fast einem Jahr, halb verfaulte Zwiebeln, die herrlich schmeckten. Fünfzig Prozent der Leute waren krank.
*
Ich war gesund, schmutzig, aber ohne Läuse. Ich konnte Rubi nirgends sehen. Großmutter Gisi legte Karten. Sie hatte diese Karten noch aus Betschkerek mitgenommen und brachte sie dann auch wieder mit nach Hause. Aber im Zug wurde in diesen Karten eine schreckliche Katastrophe angekündigt. Ich fand Großmutter Gisi mit ihren schrecklichen Voraussagen und mit ihrem ewigen »joj nekem« langweilig. Mein Hausarrest war noch immer gültig. Ich durfte mich nicht rühren. Die Karten klatschten ununterbrochen. Die Pique Dame ragte immer wieder hervor. Wieso auch nicht, wo sie doch im Spiel war?
Der Zug fuhr. Der Zug hielt an. Man aß etwas.
Es war der 16. April 1945.
Man hörte zuerst das Brummen der Flugzeuge. Dann die ersten Maschinengewehrgarben. Explosionen. Der Zug hielt an. Wir befanden uns auf einem Hügel. Endre warf mich aus dem Waggon und brüllte: »Lauf! Zum Wald!«
Ich lief, drehte mich um. Hinter mir liefen Olga und Endre mit ihren Ärztetaschen. Endre rief: »Legt euch hin!« Wir warfen uns alle auf die Erde. Wieder eine Maschinengewehrgarbe.
Ich hatte Angst. Schreckliche Angst. Wieder eine Garbe. Jetzt wußte ich, was Angst war. Flugzeuge im Sturzflug. Ich sah die Gesichter der Piloten. Ich sah das amerikanische Hoheitszeichen. Maschinengewehrgarben. Schreie.
Endre rief: »Lauf zum Wald! Lauf!« Ich lief. Alles wiederholte sich. Alles wiederholte sich. Unsere Gruppe blieb zusammen. Niemand war verletzt. Endre führte uns offenbar ganz vernünftig. Großmutter Gisi fehlte. Endre warf sich von Zeit zu Zeit über mich, um mich zu schützen. Wir erreichten den Wald.
*
Plötzlich herrschte Stille. Nichts. Ganz einfach nichts. Ein großes Nichts. Wir versammelten uns langsam. Mich schickte man, nachzusehen, was mit Großmutter Gisi passiert war. Ich ging zum Zug, fand sie aber nirgends. Ich stieg in den Waggon und hörte plötzlich »joj nekem«. Ich fand sie unter der Bank. »Du und deine Pique Dame«, sagte ich voller Verachtung, als seien die beiden an allem schuld. Dann lief ich zurück, auf den Wald zu. Plötzlich hörte ich jemanden weinen. Ein Verwundeter? Vielleicht war jemand … Ich kehrte zum Zug zurück. An der Tür eines Waggons stand Kathi, die Tochter von Tante Juza, und weinte.
»Warum heulst du?« fragte ich.
»Meine Mutter…«
»Was ist mit deiner Mutter?«
Sie zeigte mit der Hand auf ihren Hals.
»Meine Mutter ist tot«, sagte Kathi.
Santa Lucia.
Ich kehrte zu den anderen zurück. Endre verband Esther, das Mädchen, das von den zwölf Paar Stiefeln gesungen hatte.
»Was war's?« fragte ich.
»Nichts«, sagte sie. »Sie haben meinen Hintern getroffen.«
Endre erklärte mir, wie ich sie halten sollte, aber ohne Erfolg. Plötzlich hörte sie auf zu zappeln und rührte sich nicht mehr.
»Nimm die Tasche mit«, sagte Endre.
Wir gingen weiter. Nach einigen Schritten fanden wir das kleine Fräulein Milli. Das kleine Fräulein Mihi war die Gouvernante eines für mich namenlosen vierjährigen Jungen, der aus Ungarn stammte. Seine Eltern hatte man als die Reichsten in der betreffenden Gegend umgebracht und ihn, den damals Dreijährigen, ins Lager gesteckt. Manche Menschen hatten wirklich eine blühende Phantasie. Sie, das kleine Fräulein Milli, wollte sich von ihrem »Schützling« nicht trennen, obwohl sie ihrer Herkunft und Überzeugung nach Christin war. So wurden die beiden auch gegen Lastwagen des Joel Brandt »getauscht«. Lauter feine Ware! Doch das kleine Fräulein Milli mußte nun, nach einem Jahr des Herumirrens durch verschiedene Lager für Juden, obwohl noch voll christlicher Güte, einsehen, daß ihre Mühe vergeblich gewesen war. Das Kind lag, wie immer, in ihrem Schoß, aber diesmal tot.
Wir gingen weiter. Die Ärztetasche war zu nichts nutze. Dabei hätte es schon etwas zu tun gegeben. Ich dachte, das alles ist wichtig. Das sind Nachrichten. Vielleicht kann man heute abend auf der Wiese etwas organisieren. Rubi hatte mir auseinanderge setzt, daß man auch in den schrecklichen Dingen immer etwas Komisches finden müsse. Irgend etwas war immer komisch.
Und es geschah. Lärmend, diszipliniert und überaus ungläubig erschien plötzlich eine Abordnung des »Deutschen Roten Kreuzes«. Komplett ausgestattet. Was wollten diese Sanitätswagen mit den Juden anfangen? Krankenschwestern mit weißen Hauben auf den Köpfen, Ärzte in Weiß, Blut in Konserven, alles durchorganisiert. Ich haute ab. Es war höchste Zeit, daß ich mir den Zug gründlich vornahm, um festzustellen, wie die Dinge standen und was für ein Material es dort noch gab.
Am Ende der Zugsgarnitur fand ich die Ursache all unseres Unglücks. Die Deutschen hatten an unseren Zug einige Frachtwaggons angeschlossen, auf denen Panzer und Kanonen geladen waren. Diese fliegenden Idioten hatten wahrscheinlich auf den ersten Blick festgestellt, daß es sich bei uns um die Deutsche Armee handelte und zu schießen begonnen. Warum hatten sie aber weiter geschossen, als wir wie eine aufgescheuchte Horde aus dem Zug geflohen waren? Jedes Mal, wenn ich später einen guten Amerikaner traf, hatte ich den unwiderstehlichen Wunsch, ihn zu fragen, warum sie damals weiter geschossen hatten, nachdem sie doch gesehen haben mußten, daß aus dem Zug ein bunter Haufen von Zivilisten herausgequollen war. Jetzt habe ich den Wunsch nicht mehr, diese Frage zu stellen, weil sie nicht mehr aktuell ist und weil ich schon damals nach dem obligaten »Nice to meet you« davon abgekommen war.
Der erste Waggon nach den Frachtwaggons war leer. Im nächsten fand ich das alte Ehepaar aus der Operette »Der Vogelhändler«. Sie aßen etwas. Dann wieder einige leere Waggons und dann Großmutter Gisi, die Karten legte. Der Zug als solcher wurde als uninteressant deklariert. Ich kehrte in den Wald zurück.
###
Gabi wurde vorbeigetragen, leicht verwundet. Ihr kleiner Bruder und ihre Mutter weinten und versuchten, mit ihr zu gehen. Ich weiß nicht, ob ihnen das gelungen ist, weil ich sie nicht mehr sah. Diese Deutschen wußten nicht, daß wir lauter Juden waren, weil beinahe alle Deutsch sprachen, aber sie wurden aufgeklärt, daß es sich bei uns um Tauschware handelte. Unterwegs hörte ich, wie Olga mit einem weißgekleideten Arzt darüber verhandelte, welche Verwundeten sie und welche Endre betreuen könnte, die demnach im Transport bleiben sollten, welche Medikamente sie brauchte, wieviel Verbandszeug, Pulver und ähnliches. Niemandem fiel es ein, zu fragen, woher wir kamen und wohin wir unterwegs waren. Der alte Sabados saß auf einem Baumstumpf und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab. Auch dieses Pferd schien für ihn nicht das richtige zu sein. Ich versuchte den ersten Liedtext meines Lebens zu dichten:
An diesem Tage, ach so plötzlich, fiel alles zusammen ergötzlich. Einer irrte, kam ins Gehege, mußte bleiben hier am Wege.
Taugt nichts, dachte ich. Nix gut. Ich mußte die Tatsachen zuerst in Prosa eruieren - wer lebte noch und wer war tot, wer war verwundet und wer erschrocken - um Rubi Bericht zu erstatten. Rubi.
Plötzlich begann ich zu laufen. Ich wollte schreien, traute mich aber nicht. Es war nur ein Schluchzen. Ich lief zum Wald, stolperte, fiel und lief weiter. Am Waldesrand blieb ich stehen und horchte. Ich hörte den Klang der Gitarre. Plim-plom. Ich schneuzte mich, nahm mich zusammen und ging auf den Klang zu. Es war der Taubstumme. Eine Laus kommt selten allein. Er zupfte an den Saiten der Gitarre, ganz selig, daß er die Gitarre ergattert hatte, und blies ab und zu in die Mundharmonika. Ich schlich mich an ihn heran.
»He.«
»Hi-hi-hi.«
»Wo ist Rubi?«
»Wo ist Rubi? Hi.«
»Idiot!« brüllte ich. »Wo ist Rubi?«
»Eine Laus kommt selten allein. Hi-hi-hi.«
Und dann sah ich ihn. Er saß unweit von mir in seiner charakteristischen Pose an einen Baumstamm im tiefen Schatten gelehnt. Mit überkreuzten Beinen und Händen, die bereit waren, zu spielen. Sein Kopf war auf die linke Schulter gesunken. Die Garbe war ihm quer über die Brust gestreift, wo er sonst seine Gitarre gehalten hatte.
*
Ich stand vor ihm. »Rubi«, dachte ich. »Was soll ich dir jetzt sagen? Ich kann keinen Kaddisch sprechen. Erstens kann ich nicht singen und zweitens kenne ich den Kaddisch nicht. Und drittens, den Kaddisch sprechen nur die Söhne, und wenn man keinen Sohn hat und stirbt und wenn man obendrein diesem Tod eine besondere Bedeutung beimessen muß, dann kommt ein fremder Sohn und spricht den Kaddisch anstelle des nicht vorhandenen eigenen Sohnes. Aber ich bin, abgesehen davon, wie ich aussehe, gar kein Sohn. Und du bist auch gar kein Vater.«
Der Taubstumme näherte sich. Ich winkte ihm zu, er möge sich setzen. Mit der Gitarre. Ich gab ihm ein Zeichen, damit er in rhythmisch genau festgelegten Intervallen sein »Eine Laus kommt selten allein« mit seinem »Hi-hi-hi« skandierte, und ich rezitierte laut, so schön ich nur konnte, das liebste Liedchen meiner nicht existierenden Kindheit:
Ein Hund kam in die Küche
und stahl dem Koch ein Ei.
Da nahm der Koch den Löffel
und schlug den Hund entzwei.
Da kamen viele Hunde
und gruben ihm ein Grab
und setzten darauf einen Grabstein,
auf dem geschrieben stand:
Ein Hund kam in die Küche
und stahl dem Koch ein Ei.
Da nahm der Koch den Löffel
und schlug den Hund entzwei.
Da kamen viele Hunde
und gruben ihm ein Grab
und setzten darauf einen Grabstein,
auf dem geschrieben stand:
Ein Hund kam in die Küche
*
Sascha Goldman an Ildi Ivanji Amsterdam, 9. Januar 1995
Wie sich alle Wege nur über dem Platz des Faschismus kreuzen! Ich denke oft an Dich (und an mich). Was zieht mich nur dorthin zu gehen, wo mich alles immer mehr abstößt. Sehr oft melden sich »Die Wetten am Tor« in meinem Gedächtnis. Melde Dich mit einem großen, riesengroßen Brief! Es ist an der Zeit. Alles ist so, wie es war, nur komplett anders. Fährst du noch nach Subotica? Was gibt es Neues von den kleinen Hunden? Was passiert dort alles und was nicht? Schick mir einen kurzen Brief vor dem großen! Du kannst mir auch ein Fax schicken - 45.44.60.92. Und was das Neujahr betrifft, kann ich Euch nur wünschen, daß es wirklich neu wird.
Es liebt Euch sehr Euer
Sascha

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